Blick aus dem ersten Stock des Landesgerichts für Strafsachen Wien auf die Alser Straße.
Es kommt nicht oft vor, dass man direkt vor einem Verhandlungssaal auf einen Teil des Tatorts blicken kann, beim Verfahren gegen einen 24-Jährigen ist das aber der Fall.
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Wien – "Es war eine dumme Fahrt von mir", sagt der 24-jährige Herr T. mit leiser Stimme zum Schöffengericht unter Vorsitz von Philipp Schnabl. Was, vorsichtig ausgedrückt, ein Euphemismus ist, ist es doch nicht dumm, sondern schwerst geisteskrank, an einem frühen Freitagabend mit bis zu 140 Kilometern pro Stunde in den dichtverbauten und -bevölkerten Vorstädten Wiens vor der Polizei davonzufahren. Da der unbescholtene Arbeiter aber genau das am 6. Oktober gemacht haben soll, wirft ihm die Staatsanwältin neben Nötigung auch vorsätzliche Gemeingefährdung vor. Ein Delikt, dessen Strafrahmen ein bis zehn Jahre Haft beträgt.

Der in der russischen Teilrepublik Tschetschenien geborene Angeklagte, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt ist, werde sich "grundsätzlich schuldig" bekennen, kündigt seine Verteidigerin an. Um dann gleich einzuschränken: Die Voraussetzung für das Gefährdungsdelikt, dass nämlich mindestens zehn Personen gleichzeitig konkret einer Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt gewesen seien, stimme nicht. "Er ist grundsätzlich so gefahren, um niemanden zu gefährden", betont sie. Was insofern interessant ist, als der 24-Jährige in einem ausgeborgten Porsche unterwegs war, keinen Führerschein gemacht hat und Spuren von Kokain und THC im Blut hatte.

Fahrstunden, aber kein Geld für Prüfung

Das Argument mit der amtlichen Fahrerlaubnis will die Rechtsvertreterin so nicht ganz gelten lassen: "Er hat die Fahrschule besucht und Fahrstunden gehabt, aber konnte aus finanziellen Gründen die Prüfung nicht ablegen", betont sie. Überhaupt stehe der Vorfall in "krassem Missverhältnis zu seinem bisherigen Lebenswandel": Mit vier Jahren sei T. vor dem Krieg in Tschetschenien geflüchtet, habe sich gut integriert, arbeite seit seinem 18. Lebensjahr und habe seit Jahren eine Lebensgefährtin und eine eigene Wohnung, skizziert sie die Lebensumstände des Angeklagten.

"Wie kommen Sie auf die Idee, sich einen Porsche auszuborgen, wenn Sie gar keinen Führerschein haben?", will Vorsitzender Schnabl zunächst wissen. "Ich habe mir das Auto nicht ausgeborgt", antwortet der junge Mann. Ein ihm unbekannter Freund seines Beifahrers habe das Gefährt organisiert, es dem Beifahrer gegeben, er habe von diesem dann den Schlüssel bekommen. Auch den Rauschmittelkonsum am fraglichen Abend bestreitet er: "Das muss viel länger her gewesen sein!", beteuert der Angeklagte, um dann doch zuzugeben, möglicherweise am Morgen Marihuana konsumiert zu haben. "Der medizinische Sachverständige hat auch Rückstände von Kokain in Ihrem Blut gefunden und festgestellt, dass man mit dieser Menge nicht fahrtauglich ist", hält Schnabl dem Angeklagten vor. Der bleibt dabei, kein Marschierpulver vor der Fahrt konsumiert zu haben.

E-Scooter-Fahrer leicht touchiert

Die Frage, wie es zur Verfolgungsjagd gekommen sei, leitet der Vorsitzende mit einer jeden selbstbewussten jungen Automobilisten tief ins Herz treffenden Vermutung ein: "Da dürften Sie nicht sehr souverän gefahren sein!" Schließlich touchierte T. in Sichtweite einer Polizeikontrolle einen E-Scooter-Fahrer leicht. Verletzt wurde niemand, die Papiere wollte ein Beamter dennoch sehen. "Der Polizist hat in lautem Ton und aggressiv geredet", moniert der Angeklagte, daher habe er Angst bekommen und sei davongefahren.

Beginnend in der Schottenfeldgasse führte die Flucht gegen Einbahnen, über rote Ampeln und mit bis zu 140 km/h quer durch den siebenten, achten und neunten Wiener Gemeindebezirk. Pikanterweise auch direkt am Landesgericht für Strafsachen Wien vorbei. Bei der Straßenbahnhaltestelle Lange Gasse überholte T. eine haltende Garnitur links, bei der nächsten Station Landesgerichtsstraße verhinderte eine entgegenkommende Tramway diese Variante, also fuhr er rechts auf den erhöhten Haltestellenbereich auf und gefährdete laut Polizei die dort stehenden Fahrgäste.

Mitten im Siebenten begann die 13-minütige Verfolgungsjagd.

Die in der Anklage festgehaltenen Vorwürfe, er habe beispielsweise größere Gruppen Fußgänger konkret gefährdet, die gerade den Gürtel auf dem Schutzweg überquerten, weist der Angeklagte aber strikt von sich. "Es sind keine Menschen da gewesen, die zur Seite springen mussten", widerspricht er der Anzeige der Polizisten, die ihn damals verfolgten. "Ich bin mir sicher!", beharrt T. auf Nachfragen des Vorsitzenden. "Damit sagen Sie, dass die Polizisten sich das ausgedacht haben", hält Schnabl dem Twen entgegen. Der zunächst auch behauptet, nie eine Straßenbahn überholt zu haben, dann aber zugibt, sich nicht mehr genau erinnern zu können.

Die Kreuzung Alser Straße / Lange Gasse beim Alten AKH beispielsweise überquerte er bei Rotlicht mit 120 km/h, wie durch die Auswertung der GPS-Daten im Fahrzeug festgestellt werden konnte. "Haben Sie da nicht Angst gehabt?", will Schnabl wissen. "Es war eine dumme Fahrt von mir", hört er als Antwort. Die 13 Minuten gedauert hat, ehe er gegen ein geparktes Auto prallte. Auch hier gibt es aber deutliche Diskrepanzen: In der polizeilichen Anzeige ist vermerkt, das stehende Fahrzeug sei fünf bis sechs Meter weggeschleudert worden. "Das kann nicht sein! Bei mir ist nicht einmal der Airbag aufgegangen!", hält T. das physikalisch für unmöglich.

Drei von vier Zeugen fehlen

Sein als Zeuge geladener Beifahrer ist unentschuldigt nicht erschienen, zwei der drei Exekutivbediensteten, die im verfolgenden Streifenwagen saßen, haben angekündigt, terminbedingt nicht kommen zu können. Also sagt als einzige Zeugin die Beifahrerin des Streifenwagens aus, die die Geschichte ein wenig anders erzählt. Demnach habe sie einen Knall nach dem Auffahrunfall mit dem E-Scooter gehört, man habe dem Porsche-Fahrer gesagt, weiter vorn anzuhalten. Das tat er nicht, sondern fuhr langsam weiter.

Die Beamtinnen und Beamten folgten, zunächst verhielt T. sich durchaus StVO-konform und blieb auch bei einer Lichtsignalanlage stehen. "Da ein paar Autos zwischen uns waren, haben wir, als es grün wurde, das Blaulicht eingeschaltet", erinnert sich die Zeugin. "Plötzlich ist er aufs Gas gestiegen", schildert sie den Beginn des Einsatzes. Allzu belastend sind ihre Erinnerungen aber nicht: Sie weiß zwar noch, dass auf dem Lerchenfelder Gürtel bei einem Schutzweg viele Fußgängerinnen waren, ob aber noch auf dem Gehsteig oder bereits auf der Fahrbahn, weiß sie nicht mehr. Auch bei der halsbrecherischen Fahrt über den Bahnsteigbereich der Haltestelle Landesgerichtsstraße seien nur fünf bis zehn Personen anwesend gewesen. Besonders gut könne sie sich dort aber an einen Radfahrer erinnern, der sein Gefährt wegschmiss, um nicht erfasst zu werden.

Um zu klären, wie viele Menschen tatsächlich konkret gefährdet wurden, werden also die fehlenden Zeugen benötigt, Schnabl vertagt das Verfahren daher auf den 30. April. (Michael Möseneder, 26.3.2024)