Im Wohnzimmer des bescheidenen Bungalows am Rande der einstigen Stahlstadt Birmingham liegt allerhand Spielzeug herum. Ein Schaukelpferd steht in der Ecke. Draußen auf der Veranda parkt ein weißes Miniaturcabrio. Das gehört Ladner. Der Dreieinhalbjährige ist gleich zur Tür gestürmt, als es geklingelt hat. Man ahnt: Der Bub mit dem Pilzkopfhaarschnitt spielt in der Familie die Hauptrolle.

Ehepaar Wehby-Upchurch mit ihrem dreieinhalbjährigen Sohn
"Ladner war ein großer Glücksfall." Das Ehepaar Wehby-Upchurch mit ihrem dreieinhalbjährigen Sohn im Garten ihres Hauses in Birmingham, Alabama.
Karl Doemens

"Ladner", sagt Veronica Wehby-Upchurch, "war ein großer Glücksfall." Sie meint es wörtlich. Fast zwei Jahre lang hatte die Mitarbeiterin eines Gesundheitsverbands mit ihrem Mann nach der Hochzeit versucht, schwanger zu werden. Aber biologisch klappte es nicht. Schließlich entschied sich das Paar aus dem US-Bundesstaat Alabama für eine In-vitro-Fertilisation (IVF), bei der entnommene Eizellen im Reagenzglas mit Sperma befruchtet, zu Embryonen entwickelt und wieder in die Gebärmutter eingesetzt werden. Doch zwei Versuche misslangen, die Schwangerschaft nach dem dritten Transfer endete mit einer Fehlgeburt. Es dauerte drei weitere Jahre, bis das Paar sein Wunschbaby in den Armen halten konnte.

Steiniger Weg

So eine IVF-Behandlung sei belastend, berichtet die Mutter: "Alles ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts." Die Hormonbehandlungen, der Wechsel von Hoffnungen, quälendem Warten und Enttäuschung: "Das ist physisch und emotional nicht einfach." Rund 50.000 Dollar hat sie die Behandlung gekostet, die ihr ihren Sohn und zwei eingefrorene Embryonen beschert hat, die nun in einer Fertilitätsklinik lagern. Entsprechend empört war Wehby-Upchurch, als sie Mitte Februar von einem dramatischen Urteil des Supreme Court von Alabama erfuhr: Das oberste Gericht des strengkonservativen Südstaats hatte Embryonen die gleichen Rechte wie Kindern zugesprochen. Damit erfüllt die Entsorgung überzähliger Zellklumpen selbst wenige Tage nach deren Befruchtung den Tatbestand der Tötung. Zur Begründung führte der Richter Tom Parker allerhand Bibelzitate an und befand: "Schon vor der Geburt tragen alle menschlichen Wesen das Antlitz Gottes."

Damit war die gängige IVF-Praxis de facto verboten. Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung stellten die Kinderwunschzentren in Alabama über Nacht ihre Arbeit ein.

"Niederschmetternd" sei das für Freundinnen gewesen, die sich gerade mitten in einem Behandlungszyklus befanden, berichtet Wehby-Upchurch. Sie und ihr Mann sorgten sich wegen ihrer zwei gefrorenen Embryos.

Ein paar Kilometer entfernt, im wohlhabenden Vorort Mountain Brook, hatte Familienanwältin Ashleigh Dunham aufgebrachte Klienten am Telefon, die wissen wollten, was nun mit ihren (in den USA legalen) Leihmutterschaften oder vertraglich vereinbarten Embryonen-Spenden passiere. Die renommierte Jus-Professorin Susan Pace Hamill, die seit 30 Jahren an der University of Alabama in Tuscaloosa lehrt, aber befiel ein Anflug von Resignation. Das oberste Gericht des Bundesstaats habe schon oft "extreme Entscheidungen" gefällt, berichtet sie. "Deshalb dachte ich: O nein, nicht schon wieder!"

Ultrarechte Vorherrschaft

Tatsächlich wird nicht nur Alabamas Supreme Court von Ultrarechten beherrscht. Die Republikaner dominieren mit Zweidrittelmehrheit auch beide Häuser des Parlaments und halten das Gouverneursamt. An den Straßen draußen im Bibelgürtel sieht man mehr Kirchen als Ampeln. Noch in den 1980er-Jahren wurde hier ein schwarzer Jugendlicher vom Geheimbund Ku-Klux-Klan gelyncht. Bei der letzten Präsidentschaftswahl holte Donald Trump satte 62 Prozent der Wählerstimmen. Als im Sommer 2022 das US-weite Abtreibungsrecht fiel, trat in Alabama noch am selben Tag ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in Kraft. Den Bundesstaat als konservativ zu bezeichnen wäre ein Euphemismus.

Umso bemerkenswerter ist, was dann kurz nach dem De-facto-Verbot der künstlichen Befruchtung passierte: Das Pendel der extremen Politik schlug unerwartet mit voller Wucht zurück. Plötzlich standen vor dem Parlament in Montgomery ein paar Hundert Demonstrantinnen und Demonstranten – unter ihnen auch Wehby-Upchurch mit ihrem Sohn Ladner und einem Plakat, auf dem stand: "IVF hat mich zur Mama gemacht!" Empörte Konservative protestierten bei ihren republikanischen Abgeordneten. Und Bruce Pearl, der populäre Trainer der Herren-Basketball-Mannschaft Auburn Tigers, nutzte eine Vereinspressekonferenz für ein Outing. "Ich bin sehr konservativ und gegen Abtreibung", erklärte der Top-Coach. Dann machte er öffentlich, dass sich seine Schwiegertochter in einer In-vitro-Behandlung befinde. Durch die "rücksichtslose Entscheidung" des Gerichts drohe die nach Jahren des Wartens endlich bevorstehende Schwangerschaft zu scheitern, wetterte Pearl: "Die Regierung sollte meinem Sohn helfen, ein Kind zu haben, statt ihn daran zu hindern."

180-Grad-Wende

Kurz darauf legte das Landesparlament eine 180-Grad-Wende hin: Gerade einmal zwei Wochen nach der Entscheidung des Supreme Court beschlossen die Abgeordneten eine Immunität für Fertilitätskliniken und ihre Patienten. Sie können in Alabama nun für die Vernichtung überzähliger Embryonen rechtlich nicht belangt werden. Damit läuft der Gerichtsspruch ins Leere.

Das Immunitätsgesetz, das Gouverneurin Kay Ivey Anfang März unterzeichnete, umfasst gerade einmal zwei Seiten. Am folgenden Tag öffneten die Kinderwunschzentren wieder. Doch Wehby-Upchurch ahnt: "Die haben das Problem auf die Zeit nach der Wahl vertagt." Tatsächlich haben die Republikaner jede Festlegung zum Rechtsstatus des Embryos vermieden. Eine gesetzliche Verankerung der künstlichen Befruchtung lehnen sie ab.

Auch Jus-Professorin Hamill ist überzeugt: "Die Sache ist nicht vorbei." Religiöse Eiferer testen in Alabama immer wieder Grenzen aus. Schon in ein paar Monaten kann eine neue Klage vor dem Obersten Gericht landen, und die Richter könnten dann so enge Auflagen für die künstliche Befruchtung vorgeben, dass diese praktisch unmöglich würde. Oder konservative Gruppen treiben den Streit bis vor das höchste US-Gericht, den Supreme Court in Washington.

"Größte Sorge"

"Das ist meine größte Sorge", gesteht Hamill. Sollten sich die mehrheitlich konservativen Richter des US Supreme Court nämlich der Auffassung ihrer Kollegen aus Alabama anschließen und Embryonen rechtlich mit Kindern gleichstellen, käme dies einem Erdbeben für die Frauenrechte gleich: Dann wären wahrscheinlich alle liberalen Gesetze zu Abtreibung und Reproduktionsmedizin auch in progressiven Regionen wie New York oder Kalifornien hinfällig. "Das ist eine reale Möglichkeit", warnt die Jus-Professorin.

Anderswo in den USA treibt die religiöse Rechte ihren Kampf gegen die künstliche Befruchtung schon ungebremst voran: In insgesamt 14 Bundesstaaten laufen parlamentarische Initiativen, um befruchteten Eizellen per Gesetz Persönlichkeitsrechte zuzusprechen.

Doch die Demokraten wittern in dem neuen Kulturkampf auch eine politische Chance: Sie wollen die künstliche Befruchtung im Präsidentschaftswahlkampf offensiv verteidigen. Die Republikaner wollten "das Wunder der IVF" verbieten, empörte sich Präsident Joe Biden kürzlich bei seiner Ansprache zur "State of the Union": "Mein Gott, welche Freiheiten wollen sie euch als Nächstes nehmen?"

Wahlkampfthema für Demokraten

Auch im konservativen Alabama rückt Bidens Partei die Reproduktionsrechte weit nach oben auf ihre Agenda. Allerdings, erläutert Sheena Gamble, die Kommunikationsdirektorin der hiesigen Demokraten, solle die IVF in einen größeren politischen Rahmen eingebettet werden: "Seit der Supreme Court in Washington das Abtreibungsrecht gekippt hat, herrschen Chaos und Verwirrung." Gamble ist überzeugt, dass das totale Abtreibungsverbot in Alabama und die Unsicherheit um die künstliche Befruchtung die medizinische Versorgung von Frauen dramatisch verschlechtern. Darunter leidet vor allem die ärmere schwarze Bevölkerung. Schon jetzt hat der Bundesstaat die dritthöchste Kindersterblichkeit der USA, und es besteht ein Mangel an Gynäkologen: "Die fühlen sich nicht mehr sicher, hier zu praktizieren."

Rund 150 Kilometer nördlich, in Birmingham, bereitet sich Veronica Wehby-Upchurch derweil auf eine neue IVF-Behandlung vor. Ladner soll ein Geschwisterchen bekommen. Ein bisschen mulmig ist ihr schon: "Ich hoffe, das sich die Rechtslage nicht noch einmal ändert." (Karl Doemens aus Birmingham, Alabama, 2.4.2024)