Wäre da nicht der Kontext, würde das Bild harmlos anmuten: Ein Vater sitzt auf der Bettkante und hält den Kopf seines jüngsten Sohns im Arm. Die Augen des Dreijährigen sind halb geöffnet und starren ins Nichts; jene des Manns schauen ausdruckslos. "Seit Mitte März passiert das fast jeden Tag. Auch gestern, drei Uhr Früh", sagt Sascha und erzählt: "Wenn er aufwacht und Angst bekommt, fängt er zu schreien an – und dann muss ich ihn beruhigen." Wie Sascha das macht? "Ich sage ihm, dass ihm nichts passieren kann. Dass er sicher ist in seinem Bett. Dass die Schüsse und die Explosionen nur da draußen sind, vor der Tür. Nicht bei uns."

Panzersperren prägen wieder das Stadtbild auf dem Weg nach Odessa – auch wenn es sie, wie noch 2022 (Foto), in der Stadt selbst kaum gibt.
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Dem skeptischen Blick des Fragenden entgegnet Sascha mit einem unsicheren Lächeln: "Wer selbst keine Kinder hat, kann das nicht verstehen. Manchmal muss man sie anlügen, zu ihrem eigenen Schutz. Am liebsten wäre mir, wenn er und seine Mutter ins Ausland gingen. Aber das geht sich mit dem Geld nicht aus. Jetzt noch weniger als vorher."

Sascha ist Ende 30, in Odessa geboren und aufgewachsen und hat noch nie woanders gelebt oder gearbeitet. Für seine Ansprüche gab es dafür bisher weder einen Anlass noch eine Notwendigkeit. Bis zum Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine verdiente der hagere Kellner mit den kurzen schwarzen Haaren, den blauen Augen und dem ewigen Lausbubengrinser im Gesicht in einem Altstadtrestaurant gutes Geld.

Längst vergangene Zeiten

Das Otona liegt am Ende der Prachtstraße Deribasiwska. Die Oper, das bekannteste Wahrzeichen von Odessa, liegt buchstäblich ums Eck. Gäste verirren sich dieser Tage trotzdem kaum hierher. Weder Einheimische noch die wenigen Touristen – die meisten aus der Türkei und aus Israel, die sich nicht von dem seit über zwei Jahren herrschenden Ausnahmezustand abschrecken lassen. Eine gänzlich andere Klientel als die, auf die sich das am oberen Ende der lokalen gastronomischen Skala angesiedelte Otona traditionell spezialisiert hatte.

An Familien, deren Wohnhaus bei Luftangriffen beschädigt wurde, wird im Park Essen verteilt.
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Vor dem Krieg hat es regelmäßig Massen amerikanischer und westeuropäischer Männer im fortgeschrittenen Alter in das Restaurant gezogen; sie waren auf der Suche nach einer ukrainischen Freundin oder gar Ehefrau. Von einschlägigen Datingagenturen hierhergelotst, tischte die Belegschaft des Otona jahrelang Myriaden einsamer wie naiver Hillbillys aus aller Herren Länder – sehr oft aus den USA – Borscht, Wareniki, Kaviar und Champagner auf.

Während es nur in Ausnahmefällen zu dauerhaften Beziehungen zwischen Besuchern und Ukrainerinnen kam, ließen Erstere verlässlich genügend viele Dollar und Euro in Odessa, damit auch Leute wie Sascha ein relativ komfortables Auskommen fanden.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist es damit aber vorbei – und mit jedem Tag, der seitdem vergeht, wird die Lage schwieriger. Laut dem Kellner nicht nur wirtschaftlich: "Wir haben sieben Tage die Woche offen – Montag bis Sonntag. Aber du siehst ja selbst, was hier die meiste Zeit los ist: nichts. Die halbe Zeit langweile ich mich zu Tode. Und die andere verkaufe ich oft kein Essen, sondern bloß Kaffee, Bier und Wodka."

Kein Mitleid mit Moskau

Während die Temperaturen in Odessa Ende März 2024 endlich wieder ein bisschen nach oben gehen, tauen die Gemüter der Hiergebliebenen nach einem relativ milden, aber langen Winter nur langsam auf – wenn überhaupt. Während sich der Rest der Welt über den Anschlag auf das Rockkonzert am Stadtrand Moskaus entsetzt zeigte, bei dem nach offiziellen Angaben über 140 Menschen ums Leben kamen, reagierte die Mehrheit der Odessiterinnen und Odessiter bloß mit Schulterzucken – wenn nicht gar mit offen zur Schau gestellter Sympathie mit den offenbar islamistisch motivierten Terroristen.

An jenem Ort, wo jüngst zwölf Menschen bei einem Terroranschlag getötet worden sind, erinnern Stofftiere an die Opfer.
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Sukkus: Wer systematisch wie wahllos Zivilisten ermordet, wie Russland es seit über zwei Jahren in der Ukraine tut, der braucht sich nicht zu wundern, wenn sich der Hass und die Gewalt gegen einen selbst wenden. Die wenigen, die sich trauten, den Angehörigen des Anschlags in den sozialen Medien ihr Mitgefühl auszudrücken, wurden mitunter unsanft an die jüngsten Raketenangriffe auf Odessa erinnert, bei denen unter anderem fünf Kinder und ein halbes Dutzend Feuerwehrmänner und Sanitäter starben.

Die Betroffenheit hielt sich indes auch deshalb in Grenzen, weil die Bewohner der Hafenstadt am Schwarzen Meer heute schlicht andere Sorgen haben als die Folgen der hausgemachten Probleme des Kreml und seiner Inszenierungen: Weil Wladimir Putins Armee seit ein paar Wochen wieder gezielt die Energieversorgung der Region unter Beschuss nimmt, gehören Strom- und Wasserausfälle wieder zum Alltag.

Viele Fenster sind notdürftig mit Holzplatten geschützt. Ukrainische Herzen sorgen immerhin für ein wenig Auflockerung.
EPA/IGOR TKACHENKO

Wie im Kriegswinter 2022/23 liegt heute vielerorts der Geruch von Benzin und Diesel über der Innenstadt – der Sprit für die allgegenwärtigen Notstromaggregate. Angesichts der wachsenden Personalnot und der mangelnden Versorgung mit dem zur Verteidigung des Landes nötigen Kriegsgerät – das laut Präsident Wolodymyr Selenskyj mittlerweile von Artilleriegranaten über Luftabwehr- bis zu Langstreckenraketen reicht – nehmen sich diese Probleme allerdings vergleichsweise klein aus.

"Ich bin nur ein Mensch"

Wie ernst die Lage von der für den südlichen Frontabschnitt verantwortlichen Militärführung der Ukraine eingestuft wird, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass in Odessas nördlichen Vororten und an der Straße Richtung Mikolajiw seit ein paar Wochen wieder vermehrt die unter den Spitznamen "Tschechische Igel" und "Drachenzähne" firmierenden Panzersperren auftauchen. Eine Sicherheitsvorkehrung, aber eine symbolisch aufgeladene: Letztere waren im Sommer 2022 weitgehend verschwunden, nachdem klar geworden war, dass der russische Vormarsch vorerst nicht über die Oblast Cherson hinauskommen würde.

2022 (Foto) wurden Teile der historischen Stadt verbarrikadiert. Zwischendurch wurden die Sperren vielerorts abgebaut, oftmals sind sie mittlerweile wieder da.
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Zudem häufen sich seit Jahresbeginn spürbar die Aufgriffe des Grenzschutzes von wehrpflichtigen Männern, die Richtung Republik Moldau und Rumänien flüchten wollen. Selbst die für hiesige Verhältnisse horrenden Preise, die ihre Schlepper verlangen – zwischen 5.000 und 10.000 Dollar – schrecken mittlerweile viele nicht mehr ab, das Wagnis einzugehen. Sie leihen sich das Geld bei Verwandten und Bekannten – mit dem Versprechen, es zurückzuzahlen, sobald sie einen Job im sicheren Ausland finden.

Sascha, den Kellner des Otona in der Altstadt von Odessa, plagt die Sorge vor der Einberufung nicht: Als Vater dreier Kinder ist er vom Dienst an der Waffe befreit. "Ich weiß schon, dass ich mich nicht beschweren kann, wenn zur selben Zeit unsere Jungs in den Schützengräben liegen, um uns zu beschützen. Ich will deshalb auch nicht zu viel jammern. Aber ich bin eben auch nur ein Mensch." (Klaus Stimeder aus Odessa, 31.3.2024)