"Hände hinter den Kopf! los, alle!", schreit einer der Polizisten. "Und jetzt alle, die als Buben geboren sind: Aufstehen und da drüben an die Wand stellen!" Die Szene ereignete sich am 18. Februar im Raum Leningrad, als eine private Schwulen-und-Lesben-Party von der Polizei gestürmt wurde.

Das Video der Razzia kursiert seitdem im Netz. Vier Stunden lang mussten die Partygäste auf dem Boden liegen, durften nicht auf die Toilette, erzählt einer von ihnen auf dem Onlineportal "Parni+" (dt.: "Jungs Plus"). "Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Bub oder ein Mädchen? Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: 'Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?'", berichtet ein Partygast auf dem Portal "Mediazona".

Eine LGBTIQ-Demo in Sankt Petersburg, 2017
Immer öfter geht die russische Polizei gegen die LGBTIQ-Bewegung vor (Archivbild: eine Demo in Sankt Petersburg, 2017).
AFP/OLGA MALTSEVA

Homosexualität ist in Russland zwar nicht verboten, wird aber weitgehend tabuisiert. Und: Die russische Gesellschaft ist mehrheitlich homophob. Homosexualität galt in Russland bis 1993 als Verbrechen. Laut der russischen Verfassung gibt es die Ehe nur zwischen Mann und Frau, Beziehungen von Homosexuellen können nicht legalisiert werden. Jüngst hat der Oberste Gerichtshof die Situation nochmals verschärft: Das Gericht gab einem Antrag des Justizministeriums statt, "die internationale öffentliche LGBTIQ-Bewegung als extremistische Organisation anzuerkennen und ihre Aktivitäten in Russland zu verbieten".

Strafverfahren

Laut dem Onlinemedium "Meduza" wurde Ende März in Orenburg, 1.200 Kilometer südöstlich von Moskau, das erste Strafverfahren nach der neuen Regelung eröffnet. Der Art Director und die Administratorin eines Schwulenclubs kamen in Untersuchungshaft. Sie seien "Personen mit einer nichttraditionellen sexuellen Orientierung" und seien zusammen mit anderen Personen, die "auch die Ansichten und Aktivitäten der in unserem Land verbotenen internationalen LGBT-Vereinigung unterstützen", aktiv gewesen, so das zuständige Gericht in einer Mitteilung.

Nicht erst seit der neuen Regelung geht unter Schwulen und Lesben in Russland die Angst um. "Mein Partner und ich haben versucht, das Land 2022 zu verlassen", erzählt etwa der 40-jährige Englischlehrer Kirill aus Moskau dem STANDARD. "Zuerst waren wir in Usbekistan. Das ist definitiv nicht der beste Ort für Schwule." Dann ging es weiter nach Spanien, dort scheiterten sie an der Bürokratie. Nun sind sie wieder zurück in Moskau. Im Alltag versuchen die beiden nicht aufzufallen. "In Moskau, Sankt Petersburg oder einer anderen großen Stadt kann man damit umgehen, da die Menschen im täglichen Leben mehr mit sich selbst beschäftigt sind. Ich fürchte, das ist in einer Provinzstadt nicht möglich."

Die 36-jährige Art-Produzentin Julija lebt mit ihrer Partnerin in Sankt Petersburg. Im Ausland haben die beiden geheiratet, in Russland ist die Ehe nicht anerkannt. Julija hat einen Sohn geboren, der Vater ist ein schwuler Freund. "Wir wissen, dass die Probleme mit dem Erwachsenwerden unseres Sohnes beginnen könnten", sagt Julija dem STANDARD. "Jetzt ist unser Sohn ungefähr ein Jahr alt. Aber wenn wir unser Kind in den Kindergarten geben müssen, könnten sich dort Fragen ergeben. Deshalb arbeiten wir an einem Plan, das Land zu verlassen." Eigentlich will Julija in Russland bleiben. Aber: "Es ist erschreckend, sich vorzustellen, dass man mir meinen Sohn wegnehmen könnte."

Politischer Hintergrund

Die Diskriminierung von Menschen anderer Sexualität als der traditionellen hat durchaus auch einen politischen Hintergrund. Russlands Präsident Wladimir Putin versteht sich als Vorkämpfer gegen den westlichen Liberalismus. Menschenrechtler beklagen, dass Gewalt gegen Homosexuelle oder auch Mordaufrufe für die Täter immer wieder folgenlos bleiben. Auf dem Telegram-Kanal einer nationalistischen Gruppierung kann man nachlesen: "Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen – aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!"

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin versteht sich als Vorkämpfer gegen den westlichen Liberalismus – und damit auch die LGBTIQ-Szene.
EPA/PAVEL BEDNYAKOV/SPUTNIK/KREM

Vor allem in der Provinz sind Menschen anderer Sexualität zum Rückzug ins Private und ins Netz gezwungen. Immer mehr Bars und Clubs schließen. "Leider können wir unsere Bar nicht weiter betreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell", schreibt die Geschäftsführung einer Bar in Krasnojarsk, der drittgrößten Stadt in Sibirien. Zuvor hatte es mehrfach Polizeikontrollen gegeben. "Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern", glaubt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer. "Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können", erklärt der Jurist Maxim Olenitschew auf der Onlineplattform "Dekoder". "Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben."

Zur Begründung der Schließung des Elton in Krasnojarsk schreibt die Geschäftsleitung: "In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die einen gegen die anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren." (Jo Angerer aus Moskau, 6.4.2024)