Der Platz vor dem Wiener Franz-Josefs-Bahnhof ist ein ungemütlicher Ort. An diesem Nachmittag ganz besonders: Es ist diesig, und der Wind weht heftig. Monika Stark und Hans Wögerbauer sind hier unterwegs, um die Lage bei den obdachlosen Personen, die sich häufig hier aufhalten, zu checken. Schon nach wenigen Minuten entdecken sie Robert (50) und einen seiner Bekannten. Sie sitzen auf einer Bank, bei der Haltestelle für die 5er- und die 33er-Bim. Sie tragen saubere Kleidung, neue Schuhe. Eine blaue Ikea-Tasche steht neben den Männern. Aber das Bauchgefühl sagt Stark und Wögerbauer, dass sie hier gleich gebraucht werden. Und sie haben recht.

Ärztinnen am Franz-Josefs-Bahnhof
Nicht in der "Luxusordination": Hans Wögerbauer und Monika Stark am Franz-Josefs-Bahnhof. Das Strahlen in den Augen der Menschen, wenn sie sich ernst genommen fühlten und ihnen geholfen werde, das motiviere die Medizinerinnen und Mediziner.
Antonia Wagner

Normalerweise sind die Ärztinnen und Ärzte von Med4Hope nur auf Anfrage einer Sozialarbeiterin oder eines Streetworkers im Einsatz, wenn diese bemerken, dass die Obdachlosen – aus verschiedenen Gründen – Hilfe ablehnen. Viele wollen etwa keine Einrichtung aufsuchen, wo sie medizinische Behandlung auch ohne E-Card kostenlos bekommen würden. Das sei das Hauptproblem, sagt Stark. Oft seien schlechte Erfahrungen mit dem "Regelsystem" der Grund, manchmal Scham, manchmal psychische Erkrankungen. Genau könne man es nicht wissen. Man könne nur versuchen, die medizinische Versorgung so niederschwellig wie möglich zu gestalten.

Da sei man vor allem in Wien grundsätzlich "ganz gut aufgestellt", meint Stark. Es gebe Angebote. Etwa den Medizin-Louisebus, den Stark selbst leitet, oder das Neunerhaus sowie weitere Einrichtungen diverser Organisationen. Die Menschen aber tatsächlich dorthin zu bringen, das sei die wahre Herausforderung. Dieser will sich Stark mit dem Verein Med4Hope stellen. Mit freiwilligen Medizinerinnen und Medizinern, die Obdachlose dort behandeln, wo sie sind: auf der Straße.

Eiternde Wunden und Harnwegsinfekte

Aus seiner Erfahrung weiß Wögerbauer, dass eiternde Wunden und Harnwegsinfekte bei Obdachlosen zu den häufigsten Beschwerden zählen. Letzteres sei vor allem bei Frauen im Winter ein Thema: unhygienische Toiletten, kalte Bänke, kein Geld für Medikamente.

Arzttasche mit Medikamenten
Von Schokolade über Schmerztabletten bis hin zu sterilen Wundauflagen – Stark und Wögerbauer versuchen, auf alles vorbereitet zu sein.
DER STANDARD / Antonia Wagner

Der Sommer sei aber ebenfalls eine unterschätzte Gefahr. Und der beginnt immer früher und stärker. Schon am kommenden Wochenende sollen die Temperaturen knapp an der 30-Grad-Marke kratzen. Der Asphalt könne sich gerade im Hochsommer auf über 60 Grad erhitzen. Wunden und Blasen an den Füßen, die nach und nach beginnen, sich zu entzünden, seien die Folge. "Den Sozialarbeitern erzählen sie das natürlich nicht. Und es ist auch nicht deren Aufgabe zu kontrollieren, ob die Personen eitrige Wunden haben. Aber das ist ein extrem großes Problem", sagt Wögerbauer.

Ein Notfall? Robert hat einen unsterilen Dialysezugang am Hals. Monika Stark versucht am Telefon, Näheres herauszufinden.
Antonia Wagner

Mittlerweile hat Stark herausgefunden, was Robert fehlt. Er ist ein Dialysepatient und trägt eine Armmanschette des AKH. Das Krankenhaus scheine ihn kostenlos zu behandeln, vermutet die Ärztin. Aber Roberts Dialysezugang am Hals ist nicht steril. Wenn er sich entzünde, sei das brandgefährlich, sagt Stark. Robert selbst schweigt und reagiert nicht auf das Gesagte. Sein Freund vermittelt in gebrochenem Deutsch zwischen Ärztin und Patient.

Stark gibt Robert Medikamente, versucht, ihn zu überreden, in ein Wohnhaus für Obdachlose zu gehen. Der Freund sagt, Robert habe kein Geld, um das Zimmer zu bezahlen. Es sei gratis, erwidert Stark. Robert nickt zum ersten Mal. An diesem Tag ist es aber zu spät. Die Ärztin vereinbart ein Treffen, am nächsten Tag um 10 Uhr bei dieser Haltestelle. Sie komme ihn abholen. Mit ihrem Auto.

Dranbleiben

Die Ärztinnen und Ärzte bei Med4Hope haben sich der Straßenmedizin verschrieben, sie wollen eine nachgehende medizinische Behandlung anbieten. Was das heiße? Wögerbauer meint: Nachgehende Behandlung, das bedeute wirklich, den Menschen nachzugehen.

Er habe Patientinnen und Patienten, die er wochenlang immer wieder an bestimmten Orten treffe und mit denen er rede, nur damit sie ihm irgendwann vertrauen und sich behandeln lassen. Wenn sie ihm einmal vertrauen, dann könne er ihnen auch langfristig helfen, ist er überzeugt. "Ein Patient hat zu mir gesagt, er hat wegen mir mit dem Trinken aufgehört. Weil er gewusst hat, ich bin da", erzählt Wögerbauer.

Gelber Gesundheitspass
Robert bekommt einen Gesundheitspass, wo seine wichtigsten Daten eingetragen werden. Das erleichtere die organisationsübergreifende Arbeit, sagen die Ärzte.
DER STANDARD / Antonia Wagner

In Kooperation mit der Ärztekammer biete Med4Hope eigene Fortbildungen für Straßenmedizin an. Stark kritisiert, dass dies im Medizinstudium zu wenig thematisiert werde. Die Umstände seien extrem anders als in einer Praxis, die alle Stückchen spiele. Zudem sei Straßenmedizin eigentlich "Beziehungsmedizin", meint Wögerbauer. Man müsse sich das Vertrauen der Patientinnen und Patienten erst erarbeiten. Auch das sei anders und müsse gelernt werden.

Der Bedarf an mehr Straßenmedizinerinnen und -medizinern sei da. Auch der Bedarf an nachgehender medizinischer Behandlung gehe nicht zurück, im Gegenteil. Aktuell bekomme der Verein keine Förderungen, das soll sich in Zukunft ändern, hoffen die Ärztinnen und Ärzte. Bis jetzt finanziert sich Med4Hope aus Spenden und den Einnahmen aus den Fortbildungen. Viele Medikamente zahlen die Ärztinnen und Ärzte aus eigener Tasche. Ihr nächstes Ziel? Eine Vollzeitarbeitskraft, die sich um die Verwaltungsarbeit kümmere. Damit sich die Ärztinnen und Ärzte darauf konzentrieren können, Personen zu helfen, denen es ähnlich geht wie Robert. (Antonia Wagner, 8.4.2024)