Den Schlüssel fest in der Hand halten, Fake-Telefonieren, die Straßenseite gefühlte zehnmal wechseln: Alleine unterwegs zu sein, vor allem bei Dunkelheit, ist für viele Frauen alles andere als angenehm. Könnte er mir etwas tun? Was mache ich, wenn mich der jetzt angreift? Es ist ein Gefühl von Machtlosigkeit, von Ohnmacht, das viele nur zu gut kennen. Eine von ihnen ist Andrea. Die 48-Jährige wurde auf dem Nachhauseweg von einer Weihnachtsfeier von einem Unbekannten belästigt. Das hat sie schließlich dazu gebracht, den lange aufgeschobenen Selbstverteidigungskurs nun wirklich zu machen.

Die Wienerin steht in einer Runde von 20 Frauen, im Schnitt Mitte 30, die zum Kurs in der Pfeilgasse 35 im achten Bezirk gekommen sind. Jede Teilnehmerin stellt sich vor, die Situation ist bei fast allen die gleiche: Ich habe keine Ahnung, wie ich mich eigentlich wehren kann und darf.

Regel Nummer eins in der Selbstverteidigung: die Hände immer oben behalten, das erzeugt eine Distanz zum Angreifer.
Lea Sonderegger

Mentalcoach Alice Trimmel und ihr Mann Stephan, einst Berufssoldat, heute Polizist und Selbstverteidigungstrainer, kennen die Ängste der Teilnehmerinnen gut. "Wir werden euch das Rüstzeug dafür geben, wie ihr euch sicherer fühlt. Das beginnt bei einer selbstsicheren Ausstrahlung und endet bei ein paar einfachen, aber effektiven Schlägen und Tritten, die wir gemeinsam üben werden", sagt Stephan. Damit hat der erste von drei Kursabenden in der Selbstverteidigungsschule Xia begonnen.

"Ihr dürft euch wehren"

"Täter suchen auf der Straße keine Gegner, sondern Opfer", erklärt Stephan. Was das heiße? Selbstbewusstsein und Distanziertheit seien der größte Feind eines Täters. Ein aufrechter Gang, Augenkontakt, die Person siezen – all diese kleinen Dinge würden bereits viele potenzielle Übergriffe vermeiden. Aber nicht alle.

"Ihr müsst nicht erst warten, bis ihr verprügelt werdet, bevor ihr euch wehren dürft", schärft Stephan den Frauen ein – und verweist dabei auf den Notwehrparagrafen im Strafgesetzbuch. Es reiche bereits ein unmittelbar drohender Angriff auf die körperliche Unversehrtheit. Die Gruppe ist unsicher: "Mache ich mich dann eh nicht strafbar, wenn ich mich wehre?" fragt eine Teilnehmerin. "Nein", versichert der Trainer.

Selbstverteidigungstrainer zeigt Schlagtechnik an Dummy vor
"Der beißt sich die Zunge ab, wenn ihr richtig trefft": Stephan gibt den Teilnehmerinnen den Tipp zuzuschlagen, wenn der Täter spricht.
Lea Sonderegger

Frauen haben eine hohe Hemmschwelle, Gewalt einzusetzen, weiß Stephan aus Erfahrung. Das sei prinzipiell gut – er sage immer: Ein vermiedener Kampf sei ein gewonnener. Aber manchmal müsse man sich wehren, die schlechteste Reaktion sei, zu erstarren und nichts zu tun. Das wollen Stephan und Alice den Teilnehmerinnen abtrainieren. Nicht nur durch körperliche Abwehrtechniken, auch durch Mentalcoaching.

Effektive Watschen

Es beginne bereits beim Mindset, sagt Alice. Ihr Motto laute, "Sei stark", und nicht "Sei kein Opfer". Jetzt geht es im Kurs aber zuerst um Schlagtechniken. Pratzen in Rot und Blau, wie man sie vom Boxsport kennt, werden ausgepackt. Der Trainer zeigt die Schlagtechnik vor, die Teilnehmerinnen üben in Teams oder an einem Dummy. Einen direkten Zweikampf mit dem Trainer gibt es nicht.

Eine der effektivsten Verteidigungsarten sei eine "saftige Watsche". Eine Hand oben halten, mit der anderen viel Schwung aus der Hüfte mitnehmen und mit der flachen Hand zuschlagen. Warum nicht mit der Faust? Selbstverletzungsgefahr. Warum die flache Hand? Größere Angriffsfläche, größere Chance, im Gesicht des Täters irgendetwas zu erwischen, das ihn aus dem Konzept bringt. Augen: guter Treffer. Ohr: Gleichgewichtsorgan, guter Treffer. Hinterkopf, Hals, Kinn: ebenfalls gute Treffer.

Teilnehmerinnen im Selbstverteidigungskurs
"Trockentraining" – Gedanklich sollen die Teilnehmerinnen "durch das Ziel" schlagen, so erzeugen sie automatisch mehr Wucht.
Lea Sonderegger

Der Schlag in die Hoden, den Frauen vielleicht intuitiv machen würden, sei ebenfalls unglaublich effektiv, sagt der Selbstverteidigungstrainer: "Das knockt jeden Mann aus." Wer aber die Hände frei habe, solle lieber auf das Gesicht zielen. Ein leichter Ausweichversuch des Täters reiche nämlich, und man treffe anstatt der Hoden nur den inneren Oberschenkel.

Alles kann eine Waffe sein

"Auf der Straße gibt's keine Regeln, nutzt alles, was euch einen Vorteil bringen könnte": Mit dem Schlüssel in der Hand zuschlagen? Verstärkt auf jeden Fall die Verletzungen. Einen Regenschirm zur Abwehr verwenden? Warum nicht.

Davon, ein Messer in der Handtasche mitzutragen, rät der Trainer ab. "Ihr würdet eine Waffe zum Kampf bringen, im schlechtesten Fall werdet ihr durch euer eigenes Messer verletzt." Generell seien Messer "absolut tödliche Waffen". Wer damit angegriffen werde, dem nütze auch die beste Selbstverteidigungstechnik eigentlich nichts.

Auch die vermeintliche Wunderwaffe Pfefferspray sei nur wenig sinnvoll. Die Anwendung sei schwierig, man müsse üben, wie man einen Pfefferspray richtig einsetze. Da reiche auch die kurze Einschulung beim Kauf nicht aus. Zudem, ergänzt Mentalcoach Alice, werde man in einer Notsituation nicht zu einer Verteidigungsart greifen, die man im besten Fall ein Mal ausprobiert habe. Und wenn der Pfefferspray irgendwo in den Tiefen der Handtasche begraben sei, sei er ohnehin nutzlos.

Üben, üben, üben

Immer und immer wieder schlagen die Kursteilnehmerinnen auf die Pratzen und den Dummy ein. Der Trainer korrigiert die Ausführung, gibt Tipps. Dass das Training hier keine Kampfsportlerinnen ausbildet, ist allen bewusst. Es gehe aber um das subjektive Sicherheitsgefühl. Das Wissen, was man im Ernstfall tun könne.

Die Teilnehmerinnen üben in Teams. Ein zwei Meter großer Täter ist die Kollegin aus dem Kurs natürlich nicht. Trainer Stephan ist überzeugt, dass die Wiederholung und Übung der Verteidigungstechniken trotzdem effektiv ist.
Lea Sonderegger

Bevor die Teilnehmerinnen nach knapp zwei Stunden Theorie und Verteidigungstraining nach Hause gehen, werden noch die Yogamatten ausgerollt. Alice führt eine Meditation mit den Frauen durch, die das Selbstwertgefühl steigern soll. "Ich darf mich und mein Leben schützen", heißt es da etwa. Das Licht im Raum ist abgedreht, die Teilnehmerinnen mit dünnen Decken zugedeckt. Nach 20 Minuten werden die Matten wieder weggeräumt.

"Schade, dass es uns braucht"

Für Alice und Stephan ist die heutige Kurseinheit damit erledigt. Die beiden seien eigentlich "aus einer Not heraus" zu Selbstverteidigungscoaches geworden. Im Vorjahr habe es mehrere Angriffe auf Frauen in ihrer damaligen Heimatgemeinde in Niederösterreich gegeben. Die Nachbarinnen seien daraufhin wegen seines beruflichen Hintergrunds auf Stephan zugekommen mit der Bitte, ihnen zu zeigen, wie man sich richtig verteidige.

Teilnehmerin mit blauer Boxpratze im Selbstverteidigungskurs
Andrea ist im Selbstverteidigungskurs, weil sie sich beim Joggen und Nachhausegehen unwohl fühlt. Als sie tatsächlich einmal belästigt wurde, beschloss sie, nun wirklich einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen. Zu wissen, was sie tun könne, gebe ihr Sicherheit.
Lea Sonderegger

"Eigentlich ist es schade, dass es uns braucht", resümieren die Trainer. Und Andrea – sie ist zuversichtlich, dass der Kurs "etwas bringt". Sie sei gespannt auf die nächsten Einheiten, wo es um Tritte und Befreiungstechniken gehe. Ein Zopf sei übrigens eine "ungünstige Frisur", sagt Stephan. "Wenn ich den Kopf kontrollieren kann, dann kontrolliere ich die Person." (Antonia Wagner, 12.4.2024)