Einer der Favoriten beim Kandidatenturnier: der US-amerikanische Routinier Hikaru Nakamura.
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Toronto – Fast wäre die Sache noch geplatzt. Als der Weltschachbund Fide Anfang März via X einen dringlichen Appell an die kanadische Regierung verschickte, den Teilnehmern des Kandidatenturniers in Toronto doch endlich ihre Visa zu genehmigen, musste man Schlimmes befürchten. Schließlich ist die Fide, der auch noch anno 2024 mit Arkadi Dworkowitsch ein russischer Präsident vorsteht, für ihr organisatorisches Chaos berüchtigt. Eine Verlegung des Kandidatenturniers auf einen anderen Kontinent in letzter Minute, PR-Debakel inklusive, schien im Bereich des Möglichen.

Nun aber ist es doch geglückt: Am Donnerstag, um 14.30 Uhr Ortszeit, beginnt in Toronto das erste Kandidatenturnier der Schachgeschichte auf nordamerikanischem Boden, bei dem acht Teilnehmer einen Herausforderer für Weltmeister Ding Liren (CHN) ermitteln. Und weil es im Schach neben der für alle Geschlechter zugänglichen offenen Klasse auch einen reinen Frauenbewerb geht, finden in Toronto sogar zwei Kandidatenturniere statt: Erstmals kämpfen am selben Spielort parallel acht Kandidatinnen um ein Ticket für das WM-Match gegen Weltmeisterin Ju Wenjun (CHN).

Nicht-so-Alt gegen Ganz-Jung

Der Löwenanteil der Aufmerksamkeit wird in Toronto aber dem Turnier in der offenen Klasse zufallen. Dort ist nämlich seit dem Rücktritt Magnus Carlsens (33) von seinem WM-Titel im klassischen Schach ein heftiges Gerangel zu beobachten. Die ganz junge Generation, in Toronto durch die Inder Dommaraju Gukesh (17) und Rameshbabu Praggnanandhaa (18) sowie den für Frankreich spielenden Iraner Alireza Firouzja (20) repräsentiert, sieht ihre Zeit gekommen.

Aber auch die US-amerikanischen Routiniers Hikaru Nakamura (36) und Fabiano Caruana (31) und der zweimalige Vize-Weltmeister aus Russland Jan Nepomnjaschtschi (33) wittern ihre womöglich letzte Chance: Ohne Carlsen als unüberwindlichen Endgegner ist ein Sieg in Toronto schon mehr als die halbe Miete. Denn Schachweltmeister Ding Liren (31), der nach dem Titelgewinn im Frühjahr 2023 monatelang von der Bildfläche verschwand, kämpft laut eigener Aussage mit gesundheitlichen ebenso wie mit Motivationsproblemen und erzielte in letzter Zeit eher katastrophale Ergebnisse.

Und dann wären da noch der dritte Inder, Santosh Gujrathi Vidit (29), sowie der Aseri Nicat Absavov (28), die kaum jemand als WM-Kandidaten auf dem Schirm hatte, die sich jedoch beide durch überragende Turnierergebnisse direkt für den großen Fight in Toronto qualifizierten. Sie komplettieren ein Feld, in dem das Match USA gegen Indien über den nächsten WM-Herausforderer entscheiden könnte – und in dem sowohl Russland als auch Europa nur je ein Pferd im Rennen haben. Insbesondere die Schwäche Russlands, das mit Nepomnjaschtschi aktuell nur über einen einzigen Top-Ten-Spieler verfügt, ist historisch bemerkenswert.

Zäh muss man sein

Nepo, der immerhin die letzten beiden Kandidatenturniere gewann, muss allerdings auch in Toronto zu den Favoriten gezählt werden. Der Mann, dem bei seinen WM-Matches gegen Carlsen und Ding jeweils die Nerven versagten, scheint bei Kandidatenturnieren keine zu kennen.

Daneben werden den beiden Amerikanern die besten Chancen eingeräumt: Caruana und Nakamura verfügen als Nummer zwei und drei der Weltrangliste über die Klasse und auch die Erfahrung, um ein Turnier von der Größenordnung Torontos zu gewinnen. Der jungen Garde geht Letztere noch ab, weshalb die meisten Experten für dieses Mal mit dem Triumph eines Routiniers rechnen. Der Sieg in dem doppelrundig, über 14 lange Partien ausgetragenen Turnier, das zweieinhalb Wochen dauert, wird aber jedenfalls nur mit Zähigkeit und Durchhaltevermögen zu erringen sein.

Im Frauenbewerb erscheint das Ergebnis überhaupt völlig offen. Allenfalls könnte die chinesische Vizeweltmeisterin Lei Tingjie (27), die das vergangene Kandidatenturnier für sich entschied, leichten Favoritinnenstatus reklamieren. Europas Hoffnungen ruhen hier auf der jungen Bulgarin Nurgjul Salimova (20) sowie der erfahrenen Ukrainerin Anna Musytschuk (34).

Sollten am 22. April jedoch Praggnanandhaa im offenen Bewerb und Vaishali (22) bei den Frauen siegen, würden sich neben ganz Indien auch noch die Fans ungewöhnlicher Ereignisse freuen: In diesem Fall stünde nämlich erstmals in der Schachgeschichte ein Geschwisterpaar direkt vor der Besteigung der beiden WM-Throne. (Anatol Vitouch, 4.4.2024)