Seit Madeleine Albright, US-Außenministerin mit tschechischen Wurzeln unter Präsident Bill Clinton in den späten 1990er-Jahren, hat es in Washington keinen Chefdiplomaten gegeben, der so enge Verbindungen zu und Kenntnis über Europa hatte wie Antony Blinken. Das wurde zum Wochenausklang nach dem Abschluss des Jubiläumstreffens der Nato im Hauptquartier in Brüssel deutlich.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Außenminister Antony Blinken
Zwei Kontinente, gleiche Probleme: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Außenminister Antony Blinken besprachen die Themen Ukraine und Nahost.
EPA/OLIVIER HOSLET

Blinken, der aus familiären Gründen in Paris aufwuchs und ausgebildet wurde, mehrsprachig, nutzte seine Anwesenheit für weitere Konsultationen mit den Verbündeten die beiden aktuell brennenden Konfliktherde an den europäischen Randzonen betreffend: den Krieg in der Ukraine und die katastrophale humanitäre Situation in Gaza. Der US-Außenminister brachte dabei dringende Forderungen ein, unterstützt von Erklärungen von Joe Biden in Washington in der Nacht auf Freitag.

Beunruhigt von der wachsenden Kritik vor allem aus der jungen Wählerschaft drohte Biden acht kurze Monate vor den US-Präsidentenwahlen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit dem Entzug der Unterstützung, sollte dieser nicht umgehend etwas zum Schutz von Zivilisten und Helfern unternehmen. Der US-Außenminister erklärte in Brüssel, was "jetzt zählt, sind Ergebnisse", nicht Absichten. In Gaza fehlt es dringend an Nahrung und Medikamenten.

Zwei Kriege an Europas Peripherie

Das zweite diplomatische "Kampfgebiet" Blinkens war nach dem Nato-Treffen jedoch vor allem die Lage in der Ukraine. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Bündnispartner fast flehentlich dazu aufgerufen, mehr Luftabwehrsysteme zu liefern, um sich gegen die zunehmenden russischen Raketen- und Drohnenangriffe wehren zu können. Daran mangle es derzeit am meisten.

Die Chefdiplomaten der 32 Nato-Staaten waren am Vortag übereingekommen, ihre Waffenarsenale umgehend zu durchforsten und die Lieferungen an Kiew zu beschleunigen. Der US-Außenminister sprach von einer "Verdoppelung", sollten diese Ressourcen für die Ukraine nötig sein. Die Unterstützung der Alliierten werde "felsenfest" weitergehen. Eher symbolisch hatte Blinken in einer Pressekonferenz auch betont, dass das Land mit Sicherheit einmal Nato-Mitglied werden würde.

Am Freitag besuchte Blinken die EU-Kommission, um sich unter anderem mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen abzustimmen. Sie verfolgt seit Kriegsbeginn 2022 eine sehr akzentuierte Politik der Unterstützung der Ukraine, sorgte dafür, dass das Land nicht nur EU-Beitrittskandidat ist, sondern konkrete Verhandlungen bald beginnen sollen. Aber so wie ein Nato-Beitritt ausgeschlossen ist, solange der Krieg andauert und das Territorium der Ukraine umstritten ist, so ist auch ein EU-Beitritt nicht annähernd absehbar.

Tausende Milliarden Euro gesucht

Viel konkreter als Spekulationen darüber stellt sich für die EU-Staaten und die USA sowie für die Europäische Union als Ganzes und auch für die Nato die Frage, wie man all die notwendigen Hilfen ziviler und militärischer Art überhaupt finanzieren kann. Milliardenprogramme zu deklarieren ist das eine. Sie dann auch zu beschließen, was vertragsgebunden einstimmig erfolgen muss, ist das andere. Es sind auf den ersten Blick schwindelerregende Summen, die in Zusammenhang mit Hilfen für die Ukraine im Raum stehen. Auf Vorschlag von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg soll ein eigener Nato-Fonds von 100 Milliarden Euro eingerichtet werden, aus dem bis 2028 Waffen und Munition für die Ukraine angeschafft werden könnten.

Das wurde beim Nato-Jubiläumstreffen, wie berichtet, grundsätzlich positiv aufgenommen, auch wenn etwa Ungarn ein Veto ankündigte. Die EU-Staaten haben bereits im Februar ein Paket von 50 Milliarden Euro an zivilen Hilfen für Kiew beschlossen. Die Kosten für den zivilen Wiederaufbau in der Ukraine nach Ende des Krieges werden noch viel höher geschätzt: auf 800 Milliarden Euro.

Waffen und Wiederaufbau

Dazu kommen aber praktisch in allen 27 EU- und 32 Nato-Staaten noch viel höhere Kosten, die für den Auf- und Umbau ihrer nationalen Armeen gebraucht werden. So hat allein der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius zuletzt gesagt, er werde 400 Milliarden Euro brauchen, um die Bundeswehr kriegsfähig zu machen, damit man sich gegen eine mögliche russische Aggression erfolgreich wehren kann.

Auch wenn der Nachholbedarf in Deutschland als besonders hoch geschätzt wird, kann man sich leicht vorstellen, dass allein in ganz Europa in diesem Jahrzehnt eine Milliardensumme im vierstelligen Bereich zur militärischen Entwicklung nötig sein wird. Ein Beispiel für ein kleines Land ist das Nato-Land Norwegen: Die Regierung in Oslo kündigte an, die Militärausgaben bis 2036 um 600 Milliarden Kronen, etwa 50 Milliarden Euro, aufzustocken.

Um das alles real überhaupt sinnvoll bzw. effizient umsetzen zu können, müsste es auch konkrete Pläne und Abnahmevereinbarungen mit den Rüstungsindustrien geben. Das untereinander abzustimmen wird eine Herkulesarbeit. Die EU, aber zunehmend auch die Nato sollten dabei eine Schlüsselrolle spielen, das wurde beim Treffen der 32 Außenminister der transatlantischen Allianz deutlich. Wie weit man damit kommt, wird sich bald zeigen: Beim Nato-Jubiläumsgipfel in Washington im Juli soll es dazu Beschlüsse geben, rechtzeitig bevor US-Präsident Joe Binden in den Intensivwahlkampf gegen Donald Trump einsteigt. (Thomas Mayer, 5.4.2024)