Wassylyssa Stepanenko (24) hat einen Oscar gewonnen. Die Journalistin war Teil des dreiköpfigen Teams der Nachrichtenagentur AP, das Russlands Vorgehen in Mariupol in den ersten Wochen des großangelegten russischen Krieges gegen die Ukraine dokumentiert hat. Wassylyssa Stepanenko, der Fotojournalist Jewhen Maloljetka und der Videojournalist Mstyslaw Tschernow bildeten das einzige internationale Journalistenteam in der Stadt. Das Material, das sie dabei gesammelt haben, ist eine Sammlung und doch letztlich nur ein Ausschnitt an Grausamkeiten, Kriegsverbrechen und Leid, die Russland über die Ukraine gebracht hat und nach wie vor tagtäglich bringt. Und wiederum ein Ausschnitt aus all dessen, kondensiert auf 94 Minuten, ist der aus dem Material resultierende Film "20 Tage in Mariupol". Ein Film, der beim Betrachten physisch schmerzt.

Verletzte Schwangere auf Trage.
Dieses Bild ging um die Welt, die Szene ist auch im Dokumentarfilm "20 Tage in Mariupol" zu sehen.
AP/Evgeniy Maloletka

STANDARD: Sie arbeiten an einem neuen Projekt. Lässt sich darüber etwas sagen?

Stepanenko: Ich arbeite derzeit hauptsächlich an Breaking-News. AP ist ja eine Breaking-News-Agentur. Zugleich recherchieren wir aber auch in den besetzten Gebieten. Die Bevölkerung leidet dort unter vielen Dingen. Da geht es um Menschenrechte, die Russifizierung, die Menschen werden dazu gedrängt, sich als Russen zu bekennen und russische Pässe anzunehmen. Medizinische Hilfe, Arbeit, all das gibt es nicht ohne einen russischen Pass. Ich kenne viele Berichte, wonach Menschen gequält, geschlagen, gefoltert oder zum Sterben zurückgelassen wurden. Ich verfolge, was vor sich geht. Zugleich wird meine Heimatstadt derzeit schwer bombardiert. Feuerwehrleute wurden dabei getötet, als sie Menschen gerettet haben. Meine Familie ist aus Charkiw, lebt heute aber in Deutschland. Die sind in den ersten Tagen abgereist.

STANDARD: Die russische Zerstörung von Mariupol war der Anfang einer neuen Eskalationsstufe eines Krieges, den sie ja auch seither durchgehend weiter journalistisch bearbeitet haben. Seither ist auch viel passiert. Wie weit ist Mariupol heute denn emotional weg von ihnen?

Stepanenko: Mariupol war einer der schwersten Momente in meinem Leben. Diese 20 Tage waren die Hölle. Ich hätte nie gedacht, dass ich das erleben würde – den Tod, den Tod von Kindern. Jeder Tag war ein Horrorfilm, ein Albtraum – aber einer, aus dem man nicht aufwachen kann. Es ist kaum zu glauben, dass das alles real war. Aber wie Sie sagen, der Krieg geht weiter. Ich habe in Charkiw gelebt, es war eine friedliche Stadt. Als der Krieg 2014 begann, war ich 14 Jahre alt. Aber Mariupol hat mich für immer verändert. Nach Mariupol habe ich die ganze Zeit gearbeitet. Wir kamen nach Charkiw, wir arbeiteten im Gebiet Donezk, in Cherson. An allen Frontlinien also. Und ich habe so viele schlimme Dinge gesehen, von denen ich nicht dachte, dass ich sie jemals sehen würde. So brutale Angriffe. Dutzende von Toten. Menschliche Überreste auf der Straße. Manchmal besuche ich Beerdigungen – eigentlich fast täglich. Das ist alltägliche Berichterstattung. Es gab eine Menge harter Szenen. Und oft erscheinen sie, als wäre es gestern gewesen. Ich kann nicht glauben, dass es so etwas in unserer Welt gibt.

STANDARD: Als Journalistin arbeitet man ja daran, aufzuklären, Augen zu öffnen. Oft erscheint es, als wollten Menschen all das aber gar nicht wissen oder zumindest wahrhaben. Als sei es zu viel, um es zu erfassen. Ist das frustrierend?

Stepanenko: Ich kann sagen, dass das, was im Film über Mariupol zu sehen ist, nur ein sehr kleiner Ausschnitt dessen ist, was dort geschehen ist. Die Stadt wurde bombardiert und besetzt. Ich habe danach viele Menschen getroffen, die evakuiert wurden. Und sie erzählen mir immer mehr und mehr Geschichten – viel erschreckendere Geschichten, als man im Film sehen kann. Da ist zum Beispiel ein Wohnhaus bombardiert worden, und eine ganze Familie war unter den Trümmern. Alle haben aber überlebt. Der Vater der Familie war gerade Essen holen, und als er zurückkam, was das Gebäude eingestürzt. Es gab aber keine Rettung, keine Feuerwehr. Er ist also jeden Tag zu dem Haus gegangen, ist dort gesessen und hat mit seiner Familie gesprochen, bis es eines Morgens still war. Das ist nicht zu viel. Das ist die Realität. Und wir wollen sie zeigen. Das passiert jetzt, und wir müssen es zeigen. Und es war unsere Pflicht als Journalisten, es zu zeigen. Es gab auch andere Städte, die wie Mariupol niedergeschossen wurden. Aber es waren keine Journalisten dort. Dort ist aber genau dasselbe passiert wie in Mariupol. Es ist so wichtig, dass wir Beweise und Bilder haben – auch wenn manche Leute es nicht glauben wollen, weil es viel zu brutal ist.

Vasilisa Stepanenko
Wassylyssa Stepanenko (24) ist eine ukrainische Journalistin, Produzentin und Moderatorin. Nach der russischen Invasion im Jahr 2022 reiste sie zusammen mit dem Fotojournalisten Jewhen Maloljetka und dem Videojournalisten Mstyslaw Tschernow nach Mariupol, wo sie die einzigen internationalen Medienvertreter in der blockierten Stadt waren. Ihr Film "20 Tage in Mariupol" erhielt 2024 den Oscar für den besten Dokumentarfilm.
Invision

STANDARD: Wie kommen da denn Nachrichten über Zaudern und Zögern und Zurückhaltung bei der Ukraine-Hilfe aus Westeuropa oder den USA an? Hat die Welt denn kapiert, womit sie es mit Russland zu tun hat?

Stepanenko: Ich habe bei Filmvorstellungen viele Leute getroffen. Da ist einmal ein Mann zu mir gekommen und hat gesagt, dass er denke, das sei alles nur Fake. Und ich war schockiert. Wie kann man so etwas denken? Es sind aber auch andere gekommen und haben sich bedankt, haben gesagt, sie hätten all das nicht gewusst oder hätten es nicht bemerkt. Die Welt ist es gewohnt, Bilder zu sehen, die wehtun. Und die Menschen reagieren nicht mehr so wie früher. Es ist gewissermaßen normal geworden. Aber trotzdem: Filme haben so viel Macht. Wir können Informationen, Zusammenhänge und Geschichten vermitteln, tiefer in die Gefühle der Menschen eindringen – um andere Menschen verstehen zu lassen, wie es ist.

STANDARD: Ich kann mir vorstellen, dass es sich absurd anfühlt, all das erlebt zu haben und dann in Los Angeles auf dem roten Teppich zu stehen und einen Oscar entgegenzunehmen.

Stepanenko: Das tut es. Er ist surreal. Wir – also unser Team – sagen immer, wir wollen nicht, dass dieser Film existiert. Aber wir hatten keine andere Möglichkeit, als der Welt zu zeigen, was passiert ist. Wir waren in diesem Krankenhaus, und da waren so viele Verletzte. Eine Frau hat geweint: Die Welt hat uns vergessen. Und ich wollte es zeigen. Ich wollte es in die ganze Welt schreien. Aber natürlich: der Oscar, ein roter Teppich, in einem Kriegsgebiet arbeiten. Da sind so viele Geschichten von Schmerz, Gefahr und Stress, und du machst dir Sorgen um dein eigenes Leben und dein Land. Das ist nicht normal. Was bei den Oscars passiert ist, das ist normal: Gutes schaffen, Veränderung zum Besseren und das Streben danach. Krieg ist nicht normal. Ich hatte Anrufe von Leuten erhalten, von einem Arzt, die sich alle bedankt haben. Das ist das Wichtigste für uns. Diese Geschichten zu erzählen. Wir haben dieses Material durch 15 russische Checkpoints gebracht. Und es ist jetzt in der Welt und damit Geschichte. Für mich hat sich alles geändert, als ich erstmals den Tod eines Kindes sah. Ich fühle mich geehrt, dass die Oscar-Jury unsere Arbeit anerkannt hat. Aber es fühlte sich seltsam an.

Fotograf Jewhen Maloljetka, Produzentin Michelle Mizner, Videojournalisten Mstyslaw Tschernow und Wassylyssa Stepanenko.
Invision/Taylor Jewell

STANDARD: Es ist doch eine Sache, Journalistin zu sein und über Krieg zu berichten, und dann doch auch eine ganz andere Sache, Journalistin zu sein und über einen Krieg zu berichten, der einen selbst unmittelbar betrifft. Wo zieht man da die Grenze zwischen professionellem Zugang und eigener Betroffenheit?

Stepanenko: Für mich war es die erste Erfahrung in einem Kriegsgebiet. Ich war eine ganz normale Reporterin bei einem lokalen TV-Sender. Aber als die Invasion begonnen hat, habe ich eine Entscheidung getroffen: dass ich stark sein und nicht aufgeben werde. Ich habe damals eine Woche lang den Kontakt zu meiner Familie verloren und hatte Angst, sie nie wieder zu hören. Aber ich habe beschlossen, dass ich jetzt arbeiten muss. Ich habe auf dem Weg nach Mariupol noch mit meiner Mutter telefoniert. Sie wollte, dass ich das abbreche. Aber ich hatte keine Gelegenheit, über mein zerbombtes Haus nachzudenken, und hatte beschlossen, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich habe Menschen in diesem Krieg verloren, liebe Menschen. Aber ich habe meine Familie nicht verloren. Ich möchte all diese Toten nicht der Statistik überlassen. Jeder Tote war ein Mensch. Es gab auch immer Menschen um mich herum, die mir die Energie gegeben haben, weiterzumachen. Und ich habe gesehen, dass diese Informationen helfen, Leben zu retten.

STANDARD: Würden Sie denn sagen, dass Sie Glück haben?

Stepanenko: Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Mariupol lebend verlassen habe. Alles dort war reines Glück. Um uns herum gab es viele Bombenangriffe. Ich werde das Geräusch der Flugzeuge am Himmel nie vergessen. Ja, und wir hatten Glück, dass wir mit dem ganzen Material aus Mariupol herausgekommen sind. Wir sagen immer, wir haben unser ganzes Glück in Mariupol verloren. Ja, dafür empfinde ich mich als Glückspilz. (Stefan Schocher, 12.4.2024)