Ältere Asiatin mit Lesebrille sitzt vor einer Nähmaschine
Gerade beim Nähen kommt es auf den scharfen Blick an, etwa beim Fadeneinfädeln. Ab einem gewissen Alter ist das ohne Lesebrille fast nicht mehr möglich.
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Die Schrift am Handy wird immer verschwommener, man stellt sie immer größer und hält das Smartphone immer weiter weg – doch irgendwann ist der Arm nicht mehr lang genug, und man kann trotzdem nicht mehr lesen, was da steht. Eine Brille? Nein, die braucht man nicht, dann ist man doch alt. Gerade in den 40ern, wenn die sogenannte Altersfehlsichtigkeit unweigerlich beginnt, ihren Lauf zu nehmen, zögern so manche die Lesebrille so lange hinaus, bis es wirklich gar nicht mehr geht. Man will dieses klare Zeichen der eigenen Vergänglichkeit am liebsten ignorieren.

Was für uns banal und nach einem eitlen Luxusproblem klingt, kann in anderen Teilen der Welt ein echtes Problem sein – sogar existenzgefährdend. Denn für fast eine Milliarde Menschen in Entwicklungsländern ist die Lesebrille ein echter Luxus, den sich viele nicht leisten können. Generell ist Fehlsichtigkeit ein enormes Problem. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt an, dass wegen fehlender Brillen Studenten an ihrem Lernpensum scheitern, die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen erhöht wird und Millionen von Fabriks- und Landarbeitern bereits in mittleren Jahren nicht mehr arbeiten können.

Das zieht auch wirtschaftliche Folgen bis hin zu Existenzbedrohung nach sich. Das belegt eine vor kurzem in der Online-Fachzeitschrift "Plos One" publizierte Studie, die die Auswirkungen von Fehlsichtigkeit auf Arbeiter in Bangladesch untersucht hat. Dabei hat sich gezeigt, dass jene Textilarbeiter, Handwerker und Schneider, denen eine kostenlose Lesebrille zur Verfügung gestellt wurde, um 33 Prozent mehr verdienten als ihre Kollegen im gleichen Alter ohne Brille.

Enorme wirtschaftliche Auswirkungen

Über 800 Männer und Frauen, zu gleichen Teilen, die im ländlichen Bangladesch in Berufen arbeiten, die viel Liebe zum Detail erfordern, nahmen an der Studie teil. Die Hälfte der Teilnehmenden wie Teepflücker, Näherinnen und Weber zwischen 35 und 65 Jahren, erhielten, nach dem Zufallsprinzip, eine kostenlose Lesebrille – mit beeindruckenden Auswirkungen.

Acht Monate später stellten die Forschenden fest, dass jene Menschen mit Brille einen erheblichen Einkommensschub verzeichnet hatten. Sie bekamen ein durchschnittliches Monatseikommen von 47,10 US-Dollar – verglichen mit 35,30 US-Dollar für die Teilnehmenden ohne Brille.

Was das für das tägliche Leben bedeutet, beschreibt Agad Ali, ein 57-jähriger bangladeschischer Schneider in der Stadt Manikganj, sehr eindrucksvoll: "Die Alterssichtigkeit hat das Faden einfädeln und das Nähen viel schwerer gemacht, es hat immer länger gedauert, bis eine Schneiderarbeit fertig geworden ist. Immer mehr Kunden sind zu jemand anderem gegangen, mein Einkommen ist gesunken. Ich konnte nichts dagegen tun." Seit er die Brille bekommen hat, habe sich sein Einkommen aber wieder verdoppelt, berichtet er der "New York Times": "Die Brille ist wie meine Lebensader. Ohne sie könnte ich meinen Job bald nicht mehr machen."

Diesen Blick auf die Tatsachen bestätigt auch Nathan Congdon, Hauptautor der Studie und Augenarzt an der Queen's University Belfast in Nordirland: "Die Erkenntnisse zeigen einmal mehr, wie groß die wirtschaftlichen Auswirkungen einer unkorrigierten Sehkraft in jenen Teilen der Welt sind, in denen die 1,50 US-Dollar, die eine Lesebrille kostet, unerschwinglich sind."

"Die Studie zeigt, dass Sehhilfemaßnahmen eine wirklich kostengünstige Maßnahme sind, die genau so lebensverändernd sein können wie viele andere Gesundheitsmaßnahmen. Sie hat womöglich das Potenzial, das auch den Regierungen in diesen Ländern klarzumachen", sagt Congdon.

Vernachlässigte Sehkraft

Gerade die Augengesundheit wurde in den Entwicklungsländern lange vernachlässigt. Dabei sind Sehbehinderungen ein großes globales Problem, das mehr als 400 Milliarden US-Dollar an Produktivitätsverlust verursacht, schätzt die WHO. Bessere Sehkraft könnte sowohl die wirtschaftliche Leistung steigern als auch die Lebensqualität deutlich verbessern. Noch dazu ist die Behandlung der Altersfehlsichtigkeit sehr kostengünstig. Die Brillen können für unter zwei US-Dollar pro Stück hergestellt werden.

Doch es reiche nicht, die Brillen einfach nur zu verteilen. Misha Mahjabeen, Landesdirektorin der Non-Profit-Organisation Vision Spring in Bangladesch, berichtet, dass Healthcareworker in vielen Dörfern Bangladeschs auch gegen das soziale Stigma kämpfen müssen, dem Brillenträger dort ausgesetzt sind. Vor allem Frauen trifft dieses Stigma hart.

Dabei kann Fehlsichtigkeit für Frauen besonders schwierig sein, da sie neben Kinderbetreuung und Hausarbeit oft auch ein Zusatzeinkommen erwirtschaften. "Wenn das Nähen oder Putzen länger dauert oder nicht alle Steine aus dem Reis entfernt sind, kann das auch häusliche Gewalt nach sich ziehen", sagt Mahjabeen. (kru, 9.4.2024)