Rund um das Jahr 407 lösten sich die letzten kleinen Verbände römischer Truppen auf britischem Boden auf, die Insel war nach 360 Jahre währender Römerherrschaft wieder sich selbst überlassen. Für die Bevölkerung war das keineswegs eine gute Nachricht, denn die Pikten und Skoten aus dem rauen Norden der Insel witterten ihre Chance und drangen brandschatzend in den Süden vor. Viel ist aus diesen finsteren Zeiten nicht überliefert, schriftliche Quellen fehlen ab 410 fast völlig. Für die Historiker ist das sogenannte dunkle Zeitalter daher tatsächlich weitgehend undurchsichtig.

Zumindest so viel aber glaubt man zu wissen: Poströmische und keltische Warlords füllten das entstandene Machtvakuum, Usurpatoren schwangen sich zu lokalen Herrschern auf, und schließlich erhoben sich angelsächsische Söldner, die wohl auch schon zu Römerzeiten angeworben worden waren, und plünderten die ehemalige römische Provinz. Im Zuge der Völkerwanderung kamen weitere Gruppen von Angeln, Sachsen und Jüten ins Land und drängten die britische Bevölkerung schließlich nach Westen ab. Bis zum Ende des 6. Jahrhunderts hatten sich im Osten und Süden sieben miteinander konkurrierende angelsächsische Kleinkönigreiche etabliert.

Silbermünzen
Silbermünzen aus der Zeit Karls des Großen und der frühen angelsächsischen Zeit Englands.
Foto: The Fitzwilliam Museum, University of Cambridge

Auf einmal war viel Silbergeld im Umlauf

Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Nach fast 250 unsicheren und chaotische Jahren erlebte das angelsächsische England einen tiefgreifenden Aufschwung des Handels. Zwischen 660 und 750 kam plötzlich eine gewaltige Menge von Silbermünzen in Umlauf, auch auf dem nahen Kontinent. Gold spielte im geschäftlichen Alltag nur mehr die zweite Geige. Das weiß man, weil bei archäologischen Grabungen Unmengen der silbernen Geldstücke aus dieser Periode gefunden wurden. Etwa 7.000 Silbermünzen sind dokumentiert, so viele wie für die gesamte restliche angelsächsische Ära.

Was also war geschehen? Und vor allem: Woher kam all das Silber für die vielen neuen Münzen? Eine Antwort auf diese Fragen könnte nun ein Forschungsteam der Universitäten Cambridge, Oxford und der Vrije Universiteit Amsterdam gefunden haben. Die Lösung des Rätsels steckte in der Zusammensetzung der Münzen.

Es gab freilich schon einige Spekulationen, woher das Silber stammen könnte. Frühere punktuelle Analysen wiesen auf Frankreich hin, aber auch eine bisher unbekannte Quelle oder eingeschmolzenes Kirchensilber wurden ins Feld geführt. "Es gab jedoch keine eindeutigen Beweise für die eine oder andere Möglichkeit, also haben wir uns auf die Suche gemacht", sagte Rory Naismith, Professor für frühmittelalterliche englische Geschichte an der Universität Cambridge.

Spurensuche

Ausgesprochen hilfreich war dabei, dass Naismith und sein Team ein bedeutendes Zentrum für frühmittelalterliche Numismatik praktisch vor der Haustür hatte: Das Fitzwilliam Museum in Cambridge beherbergt rund 200.000 historische Münzen, darunter eine große Zahl aus der Antike und dem Frühmittelalter. 49 Silbermünzen aus der Zeit zwischen 660 und 820 wählten die Forschenden für ihre Untersuchungen aus. Geprägt worden waren die Münzen in England, in den Niederlanden, in Belgien und Nordfrankreich.

Die Fachleute hatten es auf die enthaltenen Spurenelemente und Blei-Isotopen abgesehen. Um an diese heranzukommen, setzten sie eine minimalinvasive Probenahme per Laser ein und kombinierten die Resultate mit hochpräzisen herkömmlichen Analysemethoden. Dabei zeigte sich Überraschendes: Die Zusammensetzung der Silbermünzen wies auf bisher nicht berücksichtigte Ursprünge hin.

Rory Naismith hält eine byzantinische Silbermünze
Rory Naismith von der Universität Cambridge hält eine byzantinische Silbermünze in die Kamera.
Foto: Adam Page/University of Cambridge

Silber aus Byzanz

29 der untersuchten Münzen, die in England, Friesland und Franken geprägt worden waren, entstammten der frühen Phase der Angelsachsenherrschaft zwischen 660 und 750. In diesen älteren Silberstücken fand sich eine eindeutige chemische und isotopische Signatur, die in den östlichen Mittelmeerraum, in das byzantinische Reich, verwies.

Die Entdeckung sorgte für einige Aufregung unter den Wissenschaftern. "Ich habe schon vor zehn Jahren byzantinische Ursprünge vermutet, konnte sie aber nicht beweisen", sagte Naismith. "Jetzt haben wir die erste archäometrische Bestätigung dafür, dass byzantinisches Silber die Hauptquelle für den großen Anstieg der Münzprägung und des Handels rund um die Nordsee im siebenten Jahrhundert war."

Die spezielle Zusammensetzung lässt darauf schließen, dass die ursprünglichen Silbergegenstände viel früher, vom 3. bis zum frühen 7. Jahrhundert, entstanden waren. Daher dürfte dieses byzantinische Silber bereits Jahrzehnte vor dem Einschmelzen nach Westeuropa gelangt sein. "Die Eliten in England und Frankreich saßen mit ziemlicher Sicherheit bereits auf diesem Silber", so Naismith. "Wir haben berühmte Beispiele dafür, etwa die in Sutton Hoo entdeckten Silberschalen oder die verzierten Silberobjekte im Hort von Staffordshire."

Florierender Handel und ...

"Solche prachtvollen Prestigeobjekte wurden nur eingeschmolzen, wenn ein König oder Herrscher dringend viel Geld brauchte", ergänzte Ko-Autorin Jane Kershaw von der Universität Oxford. "Dies war also ein Anzeichen dafür, dass es zur damaligen Zeit zu umfassenden gesellschaftlichen Veränderung kam." Dass die Eliten ihre Ressourcen liquidierten und immer mehr Geld in Umlauf kam, werteten die Forschenden als erstes Indiz für einen Wiederaufschwung der nordeuropäischen Wirtschaft seit dem Ende des Römischen Reichs. Vor allem die internationalen Handelsbeziehungen zwischen dem heutigen Frankreich, den Niederlanden und England erstarkten.

Das spiegelt sich auch im zweiten wichtigen Ergebnis der im Fachjournal "Antiquity" erschienenen Studie wider: Die übrigen 20 Silbermünzen, die ab 750 geprägt wurden, hatten nämlich eine völlig andere Herkunft. Dieses Silber enthielt deutlich geringere Spuren von Gold und konnte letztlich auf Melle in Westfrankreich zurückgeführt werden. Die kleine Stadt 50 Kilometer östlich der Hafenstadt La Rochelle verdankt ihren einstigen Reichtum ergiebigen Silberminen. Hier wurde schon in der Antike Silbererz gefördert, spätestens seit der Merowingerzeit existierte in Melle eine bedeutende Münzprägestätte.

Video: Solving a medieval money mystery
Cambridge University

... internationale Beziehungen

"Wir wissen, dass Melle nach der Machtübernahme durch die Karolinger im Jahr 751 in ganz Frankreich und zunehmend auch in England eine wichtige Rolle spielte", sagte Naismith. Möglicherweise war Karl der Große für diesen plötzlichen Anstieg des Melle-Silbers verantwortlich. Damals übernahm der König des Fränkischen Reichs immer mehr die Kontrolle darüber, wie und wo die Münzen in seinem Herrschaftsbereich hergestellt wurden. Und das hatte auch Einfluss auf internationale Beziehungen.

Naismith und sein Team bezweifeln nicht, dass sich die Menschen in England sehr wohl bewusst waren, dass ihr Silber aus Frankreich kam und dass sie davon abhängig waren. "Wenn Rohstoffe nur an bestimmten Orten in begrenzten Mengen vorhanden sind, kommen immer Fragen der Macht und des nationalen Interesses ins Spiel", so der Historiker. "Im frühen Mittelalter ging dies über frühere enge Grenzen hinaus, und nicht nur die Herrscher waren daran beteiligt. Auch Kaufleute, Kirchen und andere wohlhabende Personen hatten ein Interesse daran. Dass die Herrscher neuerdings viel direkter in diese Strukturen eingriffen, war für diese Zeit neu." (Thomas Bergmayr, 14.4.2024)