Forensiker arbeiten 2017 am echten Tatort.
AFP/PASCAL POCHARD-CASABIANCA

Der zweistündige Kinostreifen heißt "Borgo", wie das bekannteste Gefängnis Korsikas. Er schildert das Liebesdrama zwischen einer Gefängniswärterin und einem Insassen. Die vom Festland auf die Mittelmeerinsel versetzte Frau geht schließlich so weit, den Komplizen ihres Geliebten zwei Gangster einer verfeindeten Gang auszuliefern: Sie begrüßt sie mit dem "Kuss des Todes" und liefert sie damit ohne ein Wort den Killern aus.

Die französische Presse schreibt, der "schonungslose" Film bewirke im Publikum einen "Schock". Eine der trockenen Kurzmeldungen von Mord und Totschlag in den korsischen Blättern wird jedenfalls auf einen Schlag sehr lebendig und real. Denn der Filmplot hatte sich in einer weniger romanhaften Weise wirklich so zugetragen. Dank der Mithilfe der Haftwärterin Cathy S. orteten die Nachfolger der berüchtigten Drogengang "Brise de Mer" (Seebrise) zwei Rivalen namens Tony Quilichini und Jean-Luc Codaccioni. Offenbar gut informiert, erwischten die Schützen die beiden Haftbeurlaubten am Flughafen von Bastia, bevor diese in ihr gepanzertes Fahrzeug stiegen.

Strafprozess in der Realität

Der Strafprozess gegen das 20-köpfige Mordkommando beginnt am 6. Mai. Die Anwälte monierten, dass der Kinofilm zuvor erscheine und damit das Urteil beeinflussen könnte. Regisseur Stéphane Demoustier erklärte dagegen, ihm sei es in erster Linie um das persönliche Schicksal der Haftwärterin gegangen, weniger um die kriminellen oder korsischen Umstände.

Das scheinen nicht alle so zu sehen. Gegen Vorpremieren von "Borgo" gab es in Korsika Kritik im Netz. Bombendrohungen führten zu Saalräumungen. Wer dahintersteckt, bleibt auf der "Ile de beauté" (Insel der Schönheit), wie sie in Tourismusbroschüren genannt wird, wie üblich offen. Vor einer Woche hatte es in Taglio-Isolaccio, rund 20 Kilometer südwestlich von Borgo, einen Sprengstoffanschlag auf eine Strandbar gegeben. Warum diese "paillote" gerade jetzt in die Luft flog, ist unbekannt. Und wird auch nicht hinterfragt: Die Omertà, das Gesetz des Schweigens, gilt in Korsika bis in die Lokalpresse: "Corse-Matin" ging über die möglichen Motive oder Umstände der Pailotte-Sprengung einfach hinweg. Die Staatsanwaltschaft eröffnete der Form halber ein Verfahren wegen "Zerstörung auf gefährliche Weise".

Dabei wird es bleiben, da niemand umgekommen ist. Der Prozess gegen die Erben der heute aufgelösten Gang "Seebrise" war unumgänglich, weil es sich um bandenmäßigen Mord handelt. Und wohl auch, weil die Interessen des französischen Staates direkt bedroht sind. Laut Polizeiexperten agieren auf Korsika – das nur 350.000 Einwohner zählt – zwei Dutzend schwerkriminelle Banden. Sie dehnen ihre Geschäfte zunehmend über die angestammten Gebiete Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel aus; bis nach Marseille und die Côte d’Azur befassen sie sich heute auch mit Luxusimmobilien, Bauvergaben oder Abfallsammlung.

Kriminelle Gewalt auf Korsika

Zur Anwendung kämen regelrechte Mafiamethoden, sagt Jean-Toussaint Plasenzotti, Gründer eines Kollektivs gegen kriminelle Gewalt auf Korsika. Der Onkel eines von Unbekannten erschossenen Jungbauern hält die im Film "Borgo" genannte Nähe zwischen Gefängniswärtern und Gangmitgliedern für realistisch. Letztere hätten heute Beziehungen bis in die korsischen Gendarmerien und Gerichte.

Der bevorstehende Prozess gegen die ehemalige Gang "Seebrise" muss aber zuerst noch beweisen, dass die französische Justiz die korsische Omertà aufbrechen kann. Schafft sie es nicht, sinken die Chancen der Inselbewohner auf eine umfassende Autonomie, wie sie Präsident Emmanuel Macron Ende 2023 versprochen hatte. Innenminister Gérald Darmanin stellte im März zwar eine entsprechende Verfassungsänderung in Aussicht. Als oberster Polizeichef kann er aber nicht dulden, dass Korsika die höchste Mordrate (3,5 pro 100.000 Einwohner) aller französischen Regionen aufweist – und dazu auch die tiefste Aufklärungsquote.

Die korsischen Reisebüros verweisen immerhin auf einen positiven Umstand: Die schätzungsweise 1,3 Millionen Touristen im Jahr bleiben von den Millieuschießereien im Normalfall völlig unbehelligt. Selbst die Strandbars fliegen nur nachts in die Luft, wenn sie leer sind. (Stefan Brändle aus Paris, 17.4.2024)

Die französische Schauspielerin Hafsia Herzi.
Die französische Schauspielerin Hafsia Herzi spielt im Film die Gefängniswärterin.
AFP/JOEL SAGET