Kritik am Ruanda-Deal vor dem britischen Parlament.
Kritik am Ruanda-Deal vor dem britischen Parlament.
IMAGO/Vuk Valcic

In der Nacht auf Dienstag hat das britische Parlament ein Gesetz verabschiedet, mit dessen Hilfe Migrantinnen und Migranten nach Ruanda abgeschoben werden sollen, wenn sie unerlaubt nach Großbritannien einreisen. Uno, Europarat und viele mehr übten schon davor und auch danach Kritik an den Plänen. Auch Völkerrechtsexperte Holger Hestermeyer ist im STANDARD-Interview sehr skeptisch.

STANDARD: Nach langem Hin und Her hat das britische Parlament in der Nacht zum Dienstag das sogenannte Ruanda-Gesetz beschlossen. Es erlaubt der konservativen Regierung von Premier Rishi Sunak die Auslagerung des Asylsystems in das ostafrikanische Land.

Hestermayer: Ich halte das für eine große Tragödie, die sich da abspielt. Dieses Vorgehen verletzt die Menschenrechte. Es war nicht im letzten Wahlprogramm der Tory-Regierung enthalten. Der Sunak-Regierung fehlt die Legitimation durch eine Wahl. Und zudem hat die Ruanda-Politik keine Unterstützung durch die Mehrheit der Bevölkerung.

STANDARD: Warum beschäftigen Sie sich mit diesem Thema?

Hestermayer: Ich lehrte längere Zeit am King's College in London und interessierte mich für die Frage: Wie geht Westminster mit völkerrechtlichen Verträgen um? Anders als in Frankreich, Deutschland oder den USA sind die Kompetenzen des Parlaments bei völkerrechtlichen Verträgen sehr eingeschränkt. Im Fall der Ruanda-Politik handelte es sich zunächst sogar nur um ein Memorandum of Understanding …

STANDARD: … also eine beiderseitige Absichtserklärung.

Hestermayer: Diese muss dem Parlament überhaupt nicht vorgelegt werden. Es war auch klar, dass Geld fließen würde, aber nicht, wie viel. Zudem ist das Projekt von Anfang an falsch dargestellt worden, sowohl hier wie auf dem Kontinent.

STANDARD: Viele Medien tun so, als könnten die Flüchtlinge von Ruanda aus Asyl in Großbritannien beantragen.

Hestermayer: Das ist schlicht falsch. Die Menschen werden nach Ruanda geschafft und dürfen sich dort um Asyl bewerben. Eine Rückkehr nach Großbritannien wird, bis auf wenige unklar definierte Einzelfälle, gänzlich ausgeschlossen. Das Vereinigte Königreich hat schon bisher eine Viertelmilliarde Pfund bezahlt für eine Politik, die gegen die Menschenrechte verstößt.

STANDARD: Dazu war es nötig, das nationale Asylrecht anzupassen.

Hestermayer: Und dann wurden die britischen Gerichte angerufen. Der Oberste Gerichtshof hat im November gesagt: Zur Frage, ob es sich bei Ruanda um ein sicheres Land handelt, ist die sachlich kompetenteste Organisation das UN-Flüchtlingshochkommissariat. Deren Aussagen sind ganz eindeutig: kein sicheres Land.

STANDARD: Das Gericht wies außerdem auf die 100-prozentige Ablehnungsrate Ruandas für Flüchtlinge aus Konfliktzonen wie Syrien, Jemen und Afghanistan hin und verwarf das Regierungsgesetz ohne jede Einschränkung.

Hestermayer: Daraufhin hat die Regierung das Memorandum umgeformt in einen völkerrechtlichen Vertrag. Er soll sicherstellen, dass das Asylsystem in Ruanda besser wird und eine Abschiebung ins Herkunftsland nicht mehr möglich ist. Gleichzeitig teilt das Gesetz mit: Ruanda ist ein sicheres Land. Das dürfen Gerichte nicht infrage stellen.

STANDARD: Selbst wenn man der Argumentation der Regierung zum jetzigen Zeitpunkt folgt: Kann sich diese Feststellung nicht in Zukunft ändern?

Hestermayer: Ich finde die Zukunft hier gar nicht entscheidend. Es geht doch um die Gegenwart. Für die hat der Supreme Court im November faktisch festgelegt: Ruanda ist kein sicheres Land. Und die Regierung konnte die Beweislage seit November nicht verändern.

Holger Hestermeyer: "Die Lords sind eingeknickt."
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STANDARD: Ausgerechnet das nicht gewählte Oberhaus hat dem nicht gewählten Premier Steine in den Weg zu legen versucht.

Hestermayer: Die Lords haben zunächst mit interessanter Begründung gegen den Vertrag gestimmt: Dieser solle erst in Kraft treten, wenn Ruanda das Verfahren eingeführt hat. Zuletzt ging es noch um zwei Zusätze: einerseits den Schutz von Afghanen, die britischen Hilfsorganisationen oder Streitkräften geholfen hatten und deshalb der Verfolgung ausgesetzt sind; andererseits sollte eine unabhängige Kommission fortlaufend untersuchen können, ob es sich bei Ruanda wirklich um ein sicheres Land handelt. Jetzt sind die Lords aber eingeknickt.

STANDARD: In der gleichen Nacht starben wieder fünf Migranten im Ärmelkanal, darunter ein siebenjähriges Mädchen. Wird das Ruanda-Programm den Abschreckungseffekt haben, den sich die Regierung erhofft?

Hestermayer: Das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Wird die Regierung jeden Menschen, der ankommt, umgehend in ein Flugzeug stecken und nach Afrika schicken? Nein, es geht nur um wenige Hundert. Die Leute, die in den Schlauchbooten über den Kanal setzen, riskieren ihr Leben. Ist das Schicksal, nach Ruanda abgeschoben zu werden, schlimmer als der Tod? Doch wohl nicht.

STANDARD: Würden Sie den Briten zubilligen, dass die Weltstadt London eine besondere Sogwirkung entfaltet? Zumal es auf der Insel bis heute keine Meldepflicht gibt.

Hestermayer: Die Sogwirkung entsteht meines Erachtens vor allem durch die englische Sprache. Das ist die Weltsprache. Aber bitte vergessen Sie nicht: Die Zahl der Asylwerber, die England erreichen, ist im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Österreich winzig. Großbritannien ist durch die Insellage sehr bevorzugt, die Briten stehlen sich aus der Verantwortung. Ihre vielgerühmten angeblich sicheren Wege, auf denen man sich "legal" um Asyl bewerben kann, sind nicht existent. Ich bin kein Experte für Asylrecht. Aber das sagen mir Leute, die mehr davon verstehen als ich.

STANDARD: Premier Sunak sagt: Kein "ausländisches Gericht" – gemeint ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg – werde sein Vorhaben aufhalten. Entspricht das geltende Recht nicht mehr der Realität anwachsender Flüchtlingsströme?

Hestermayer: Ich würde die Schuld nicht bei den Menschenrechten suchen. Momentan redet nur das Vereinigte Königreich davon, die Europäische Menschenrechtskonvention zu verlassen. Das ist der permanenten Radikalisierung der konservativen Partei geschuldet. Wenn das Schule macht, hätten wir ein echtes Problem. Aber Sie müssen auch bedenken: Es handelt sich um eine Regierung auf Abruf.

STANDARD: Die Labour-Opposition will mit dem Ruanda-Projekt nichts zu tun haben.

Hestermayer: Das müssen wir beobachten. Sollte Labour die nächste Wahl gewinnen, besteht die Chance, dass die jetzige Entscheidung zügig rückgängig gemacht wird. (Sebastian Borger aus London, 23.4.2024)