"Jeder von Ihnen weiß aus seiner eigenen Beziehung: Wenn man miteinander nicht mehr redet, sind die Grundlagen der Beziehung zu Ende", sagte Kubicki beim Parteitag am Samstag.
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Berlin – 16 Monate vor der nächsten Bundestagswahl drohen die mitregierenden Liberalen der deutschen Ampelkoalition mit dem Aus. "Ich kann nur dringend von hier aus appellieren: Nehmen Sie die Gespräche mit uns auf. Denn wenn nicht gesprochen wird, wird es auch keine Zukunft dieser Koalition geben", sagte FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki am Samstag beim FDP-Parteitag in Berlin. Kubicki bezog sich auf das FDP-Wirtschaftsreformkonzept, das bei SPD und Grünen für Empörung gesorgt hat.

Aus dem FDP-Papier "muss etwas folgen, weil es wirklich ums Land geht", forderte der Vizepräsident des Bundestages. Wenn die Grünen erklärten, sie würden das einfach abheften, und die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sage, darüber rede man gar nicht erst, "dann haben wir ein fundamentales Problem", warnte Kubicki. "Jeder von Ihnen weiß aus seiner eigenen Beziehung: Wenn man miteinander nicht mehr redet, sind die Grundlagen der Beziehung zu Ende."

FDP-Chef Christian Lindner forderte beim Parteitag ebenfalls, dass die Ampel-Regierung den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands in den Mittelpunkt der Koalitionsarbeit stellt. "Wenn ein Land in zehn Jahren von Platz 6 der Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 22 zurückfällt, was ist dann dringlicher als eine Wende?", sagte er vor den mehr als 600 Delegierten. "Denn in nächsten Jahren muss unser Ehrgeiz sein, von 22 wieder in die Weltspitze zurückzukehren."

Leitantrag zur "Wirtschaftswende"

Erwartungsgemäß erhielt die Parteispitze Rückendeckung für das umstrittene Papier. Eine große Mehrheit der Delegierten votierte am Samstag in Berlin für den dazu vorgelegten Leitantrag des FDP-Bundesvorstands zur "Wirtschaftswende". Dieser formuliert die wesentlichen Forderungen des Zwölf-Punkte-Papiers aus, das SPD und Grüne äußerst kritisch sehen. Konkret werden Steuersenkungen und eine Budgetpolitik ohne neue Schulden gefordert. Enthalten ist die Forderung nach einem dreijährigen Moratorium für den Sozialstaat: In dieser Zeit soll es keine neuen Sozialleistungen geben.

Das Papier hatte Spekulationen über ein vorzeitiges Koalitions-Aus befeuert, weswegen Lindners Parteitagsrede mit Spannung erwartet wurde. Der FDP-Chef machte in seiner einstündigen Rede an mehreren Stellen deutlich, dass er einen Erfolg der Ampel-Koalition will, kein vorzeitiges Ende. Scharf griff er wiederholt die oppositionelle Union an, die jahrzehntelang bevorzugter Koalitionspartner der FDP gewesen war. Die FDP dümpelt in den Umfragen aktuell nur noch bei fünf Prozent, nachdem sie bei der letzten Wahl 11,5 Prozent geholt hatte. In der FDP-Parteispitze geht man zudem davon aus, dass wechselfreudige Wähler zur Union abgewandert sind, aber auch zurückgewonnen werden können.

Kritik an Ursula von der Leyen

Scharfe Kritik gab es beim FDP-Parteitag an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die bei der Europawahl als Spitzenkandidatin der konservativen CDU ins Rennen geht. Deutschland baue immer weiter Bürokratie ab, in Europa werde sie aber munter nachproduziert, kritisierte FDP-Chef Lindner. Mittlerweile stammten fast 57 Prozent des bürokratischen Aufwands aus der Umsetzung europäischer Richtlinien. "Ich kann gar nicht so schnell im Bundesrecht Bürokratie abbauen, wie sie Ursula von der Leyen hinterher produziert." Dabei sei Bürokratieabbau "ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif".

Ähnlich äußerte sich Justizminister Marko Buschmann. "Bürokratiestress hat einen Vornamen: Ursula", sagte er mit Blick auf die Unionspolitikerin. Die FDP-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, warf der Kommissionspräsidentin vor, wirtschafts- und verteidigungspolitisch versagt zu haben. "Im IHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl haben nur fünf Prozent der deutschen Industrieunternehmen gesagt, die EU sei in den vergangenen fünf Jahren als Standort attraktiver geworden. Wie kann man sich nach einem solchen Misstrauensvotum unserer Wirtschaft einfach zur Wiederwahl als Kommissionspräsidentin stellen wollen?", sagte Strack-Zimmermann.

Abschaffung von Solidaritätszuschlag gefordert

Lindner forderte in seiner Rede erneut die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags, eines nach der Wiedervereinigung geschaffenen Steuerzuschlags für die Finanzierung der Aufbaumaßnahmen in der ehemaligen DDR. "Bevor wir uns von Karlsruhe aus Rechtsgründen dazu zwingen lassen, sofort und ohne Plan auf den Soli verzichten zu müssen, sollten wir lieber die klare politische Entscheidung treffen, planvoll Schritt für Schritt auf ihn zu verzichten", sagte er unter Verweis auf ein mögliches Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts.

Ablehnend äußerte er sich zum Konzept der Kindergrundsicherung der Grünen Familienministerin Lisa Paus. Es müssten dafür nämlich bis zu 5.000 zusätzliche Jobs geschaffen werden, und bis zu 70.000 Menschen würden dann mangels Arbeitsanreizes aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Die vorgesehenen Milliarden sollten lieber "in mehr und qualitätsvolle Kinderbetreuung" investiert werden, so Lindner. Auch verband er ein Bekenntnis zur weiteren Unterstützung der Ukraine mit der Warnung, dass die Bundeswehr künftig nicht mehr "auf Pump" ausbauen könne. "Wir brauchen dazu unsere Wirtschaftskraft", betonte Lindner. (APA, 27.4.2024)