SPD-Chefin Saskia Esken will klarmachen, dass die AfD nicht die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertritt, sondern eine "Reiche-Eliten-Partei" sei.
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Rundgang im Sonnwendviertel, Besuch des Lebenscampus Wolfganggasse, Fackelzug mit der Sozialistischen Jugend, Maikundgebung auf dem Rathausplatz – das Programm, das SPD-Chefin Saskia Esken bei ihrem Aufenthalt in Wien absolviert, ist dicht. Zum Abschluss sollte es am Nachmittag des 1. Mai noch mit SPÖ-Chef Andreas Babler nach Traiskirchen gehen.

Babler will Kanzler werden, müsste dafür aber erst noch einiges aufholen bis zur Nationalratswahl im Herbst. Seine SPÖ steht bei 21 Prozent. Da kann Esken neidisch sein, die SPD schafft es in Umfragen nur auf 15 bis 16 Prozent. Dafür stellt sie in Deutschland mit Olaf Scholz den Kanzler.

STANDARD: Welche Tipps tauschen Sie mit Andreas Babler aus? Wie er Kanzler werden kann? Oder sagt er Ihnen, wie die deutsche Sozialdemokratie ihre Umfragewerte verbessern kann?

Esken: Wir sind natürlich in engem Austausch, aber Andreas Babler und die SPÖ brauchen keine Tipps von uns. Österreich und Deutschland haben ähnliche Herausforderungen zu meistern. Wie in vielen europäischen Mitgliedsstaaten sind Konservative zum Teil zur Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten und Rechtsradikalen bereit. Das ist sehr beunruhigend. Gleichzeitig sind viele Menschen durch Krisen und Umbrüche verunsichert. Das alles sind Herausforderungen, auf die die Sozialdemokratie die richtigen Antworten hat.

STANDARD: Ähnlich ist derzeit auch die Ausgangslage vor der Wahl. Die SPD lag 2021 lange nicht an erster Stelle, schaffte es aber dann bei der Bundestagswahl auf Platz eins. Was raten Sie Andreas Babler?

Esken: Wir haben aus unserer Erfahrung gelernt: Es ist gut, bei aller Unruhe über schlechte Zustimmungswerte und schwierige gesellschaftliche Entwicklungen, die Grundwerte der Sozialdemokratie hochzuhalten und auf die neue Zeit anzuwenden. In den Entscheidungen, welche Themen im Wahlkampf relevant sind, darf man nicht wackeln oder alle drei Wochen etwas Neues plakatieren.

STANDARD: Andreas Babler hat gerade seine Pläne vorgelegt. Sind diese kanzlertauglich?

Esken: Das sind gut sichtbare sozialdemokratische Grundlinien, die jetzt gerade notwendig sind. Die Menschen brauchen Sicherheit, Orientierung und Zuversicht. Wir haben uns im Wahlkampf vor allem mit Wohnraum, gerechten Löhnen und dem Klimaschutz beschäftigt. Und wir haben klargestellt, dass die gesetzliche Rente die wichtigste Grundlage für die soziale Sicherheit ist. Anfangs lagen wir bei 13 bis 14 Prozent Zustimmung. Wir haben es durchgehalten, und es war gut und richtig so. Andreas Babler bringt noch eine andere wichtige Voraussetzung mit: Er redet Klartext, die Menschen verstehen ihn.

STANDARD: Gibt es einen Aspekt der österreichischen Sozialdemokratie, der Ihnen besonders zusagt?

Esken: Die besondere Situation der Stadt Wien. Bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen, dies als öffentliche Aufgabe zu sehen und sich nicht von neoliberalen Irrungen und Wirrungen erfassen zu lassen – das ist eine Wiener Erfolgsgeschichte. Wien pflegt seinen Bestand an Wohnungen und baut ihn aus. So wird dafür gesorgt, dass Wohnen eben nicht zur großen sozialen Frage wird.

STANDARD: Sie selbst fordern einen höheren Mindestlohn. Verkraftet das die nicht gerade prosperierende deutsche Wirtschaft?

Esken: Derzeit liegt der Mindestlohn in Deutschland bei 12,41 Euro pro Stunde, 2025 steigt er auf 12,82 Euro. Das reicht nicht aus und wird der Lebenssituation der Menschen nicht gerecht. Zwar ist die Inflation leicht gesunken, aber die Preise sind immer noch hoch. Wir brauchen deshalb eine kräftige Erhöhung.

STANDARD: Die FDP wird das nicht freuen. Diese will auch die Rente mit 63 abschaffen und beim Bürgergeld kürzen. Wie soll das in Ihrer Ampelkoalition weitergehen?

Esken: Die FDP hat natürlich gerade im sozialpolitischen Bereich in vielen Punkten eine andere Auffassung als die Sozialdemokratie. Und trotzdem haben wir zu Beginn der Legislatur, gemeinsam mit den Grünen, einen progressiven Koalitionsvertrag zusammenbinden können. Es gab eine positive Aufbruchstimmung.

STANDARD: Die hat nicht lange gehalten.

Esken: Wenige Wochen danach überfiel Putin die Ukraine. Der Ukrainekrieg, die Sicherung der Energie und die Unterstützungsleistungen haben uns dann natürlich in starkem Maße geprägt. Wir haben viel erreicht und somit die schlimmsten Befürchtungen abwenden können. Jetzt kommt es darauf an, einen gemeinsamen Haushalt zusammenzubringen. Das wird herausfordernd, aber ich bin zuversichtlich. Eines ist jedoch klar: Die sozialen Errungenschaften werden wir uns nicht wieder aus der Hand nehmen lassen.

STANDARD: Haben Sie sich die Koalition mit Grünen und FDP so mühsam vorgestellt?

Esken: Ich wurde im Dezember 2019 SPD-Vorsitzende. Kurz darauf kam Corona. Seither bin ich Parteivorsitzende im Krisenmodus. Aber das ändert nichts daran, dass wir gute Politik machen und das Land sicher durch alle Krisen führen.

STANDARD: Wird die EU-Wahl am 9. Juni eine Testwahl für die Ampel?

Esken: Die Bürgerinnen und Bürger treffen ihre Wahl aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, wobei die EU-Ebene für viele von ihnen weit entfernt ist. Wir müssen mit den Menschen noch mehr kommunizieren und sie weiterhin von unserer Politik überzeugen, um ihnen Sicherheit und Zuversicht zurückzugeben.

STANDARD: FPÖ und AfD wollen natürlich Migration und Integration zum großen Thema machen. Wie soll die Sozialdemokratie damit umgehen? Es auch offensiv ansprechen?

Esken: Wir müssen endlich aufhören, über Migration so zu reden, als sei sie die "Mutter aller Probleme", wie es ein Innenminister aus Bayern einmal formuliert hat. Denn Migration löst ja viele Probleme. Überall in Deutschland fehlen Fachkräfte – in der Pflege, am Bau, bei der Polizei, in der Verwaltung. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Migrantinnen und Migranten nach Deutschland gekommen, ohne sie hätten wir das Land nicht aufbauen können. Sie gehören zu uns. Und auch heute brauchen wir Migration, um unseren Wohlstand zu sichern.

STANDARD: Der thüringische CDU-Chef Mario Voigt hat dies im TV-Duell mit AfD-Mann Björn Höcke angesprochen. Fanden Sie diese direkte Auseinandersetzung gut?

Esken: Ich hätte Höcke keine Bühne geboten. Wir müssen mit den Menschen reden und ihre Sorgen aufgreifen. Das kann man mit Konzepten machen für den Wohnungsbau oder eine bessere Kinderbetreuung. Der AfD geht es hingegen um die Ablehnung der etablierten Politik. Sie will den Eindruck erwecken, sie stehe für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das tut sie in keiner Weise, sie ist eine Reiche-Eliten-Partei. Und das müssen wir den Menschen deutlich machen. (Birgit Baumann, 1.5.2024)