Kunstfigur? Denunziant? Satireprojekt? Querulant? Das sind die netteren Zuschreibungen, mit denen N. seit einigen Wochen konfrontiert ist. Am anderen Ende der Skala stehen Todesdrohungen. Ein 18-Jähriger aus Sachsen-Anhalt nennt sich selbst deutscher "Anzeigenhauptmeister" und verbringt seine Freizeit seit drei Jahren damit, jene anzuzeigen, die beim Parken gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Pardon kennt er dabei keines. Dafür wird er bewundert, aber auch gehasst.

Auf der Jagd nach Parksündern: der selbsternannte
Auf der Jagd nach Parksündern: der selbsternannte "Anzeigenhauptmeister".
Screenshot: Youtube/ZDF

Die Allgemeinheit sei die Profiteurin seines Tuns, argumentiert er. Ihr würde das Geld aus den Strafen zugutekommen. Er, der sich selbst als Influencer bezeichnet, profitiert, indem er sich zu einer Marke macht. In den sozialen Medien brodelt jedenfalls seit einigen Wochen eine Melange aus Bewunderung und Verachtung, die brandgefährlich ist.

Körperlicher Angriff

Am Wochenende resultierte sie in einem Angriff auf N. Er wurde im sächsischen Bautzen geschlagen. Orchestriert von einem Internetmob, der sich in Messengerdiensten wie Telegram formiert, kündigen seine Hater an, Jagd auf ihn zu machen. Und es ist zu befürchten, dass sich die Eskalationsspirale weiterdrehen wird. Befeuert durch die vielen Medienberichte, sind sowohl die Identität als auch der Wohnort des 18-Jährigen bekannt. Es wird Zeit, die Stopptaste zu drücken, meinen Kritikerinnen und Kritiker.

Fünf Millionen Aufrufe auf Youtube

Die Crux: N. ist mit seiner Geschichte selbst an die Öffentlichkeit gegangen, indem er Medien kontaktierte, um sich als "Anzeigenhauptmeister" zu inszenieren. Ausgestattet mit seinem Fahrrad und in oranger oder gelber Uniform, dokumentiert er Falschparker und zeigt sie via App an. Die ersten Medienberichte gab es bereits Ende Jänner 2024, aber so richtig durch die Decke ging es erst mit dem Bericht von Spiegel TV Ende Februar. Allein auf Youtube wurde "Kein Pardon für Parksünder: Der 'Anzeigenhauptmeister' zeigt sie alle an" über fünf Millionen Mal abgerufen.

"Riesige Öffentlichkeitsbühne"

Das Ungewöhnliche ist oft der Stoff für spannende Geschichten, sagt die deutsche Medienwissenschafterin Marlis Prinzing. Kritisch sieht sie aber die Art und Weise, wie manche Medien N. in Szene setzen. Prinzing echauffiert sich vor allem über die Spiegel-TV-Geschichte: "Ein zunächst Medienunerfahrener wird auf eine riesige Öffentlichkeitsbühne gestellt, offenbar ohne große Rücksicht auf die Folgen", sagt sie zum STANDARD. Neben gravierenden journalistischen Fehlern der Reportage, dass etwa die Angaben des jungen Mannes nicht überprüft und eingeordnet würden, sieht sie vor allem "berufsethische Probleme".

Problem der identifizierenden Berichterstattung

Prinzing referenziert auf den deutschen und österreichischen Ehrenkodex für die Presse, wonach etwa bei einer identifizierenden Berichterstattung das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen müsse: "Bloße Sensationsinteressen rechtfertigten keine identifizierende Berichterstattung." Im Beitrag von Spiegel TV sei der Scheinwerfer des TV-Teams "voll auf die Person, Name, Gesicht, Wohnort und das Ziel des Betroffenen – mindestens eine Anzeige in jeder deutschen Stadt oder Gemeinde – gerichtet worden", kritisiert Prinzing, die als Professorin für Journalistik an der Kölner Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation lehrt und arbeitet.

Als "komischer Vogel" vorgeführt

Ähnlich sieht das auch Christian Schicha, deutscher Medienwissenschafter und Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Bericht von Spiegel TV sollte der "Anzeigenhauptmeister" hauptsächlich als "komischer Vogel" vorgeführt werden. "Dafür bietet er natürlich selbst ausreichend Material, das mit seinem abgeänderten Polizeischild am Fahrrad beginnt und durch seine orange 'Uniform' weitergeführt wird", sagt Schicha zum STANDARD. "Dass er sich dabei selber gefährdet, da aggressive Falschparker ihn nicht nur beleidigen, sondern auch körperlich angreifen können, wird nur unzureichend problematisiert." Grundsätzlich sei es legitim, dass Medien eine Geschichte über ihn machen, wenn er damit einverstanden sei, nur: "Man sollte ihn aber auf die Gefahren hinweisen, dass er durch die Ausstrahlung als öffentliche Person in den Medien mit weiteren Anfeindungen rechnen kann."

Geschürte Wut

N. wird in dem Bericht beispielsweise "Meister Petze", "Anschwärzer vom Dienst" oder die "Nervensäge in Namen von Recht und Ordnung" genannt. Das spiegle sich umgehend in den Kommentarspalten, nicht nur von Spiegel TV, sondern auch auf Facebook wider. Es verstärke "Reaktionen, Aufmerksamkeit und Klickzahlen", so Medienwissenschafterin Prinzing. "Rage Bait nennt man das Phänomen, wenn durch bewusst und teilweise manipulativ geschürte Wut das Feuer am Lodern gehalten wird." Zur Erinnerung: Es geht um einen 18-Jährigen, der zwar selbst das Licht der Öffentlichkeit sucht, nichtsdestotrotz aber vor ihr geschützt gehört.

"Vulnerables Alter"

"Dass er sich selbst medial inszeniert, hebt diese Verantwortung nicht auf, weil aus einem problematischen Verhalten nie folgt, dass ein anderes problematisches Verhalten dadurch korrekt wird", sagt Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München, zum STANDARD. Das gelte umso mehr, als N. "noch in einem vulnerablen Alter" sei, wo umso mehr eine Schutzwürdigkeit bestehe. "Gar nicht geht, den Nachnamen und den Wohnort preiszugeben, insbesondere von einer Person, gegen die in den Youtube-Kommentarfunktionen bereits Gewalt- und Todesdrohungen geäußert wurden."

Der Mob stachelt sich auf

"Man weiß, dass verbale Gewalt und Onlinegewalt meist der Zwischenschritt zu realer physischer Gewalt sind", so Paganini. "Grundsätzlich sollte auch die Kommentarfunktion bei so heiklen Themen oder vulnerablen Personen deaktiviert werden, weil der wütende Mob sich gegenseitig aufstachelt. Gewaltkommentare und Diffamierungen zu lesen macht Hater selbst umso aggressiver." Dehumanisierung habe eine starke Eigendynamik und sei nur schwer einzubremsen. Im Falle N.s seien Begriffe wie "Profipetze" oder "Anschwärzer vom Dienst" zu vermeiden, auch wenn sie witzig gemeint seien. "Das diffamiert, dehumanisiert und leistet Aggression und Gewalt Vorschub."

Spiegel TV: Keine Dreharbeiten mehr mit N.

Spiegel TV betont auf Anfrage des STANDARD, dass die Redaktion "nach allen berufsethischen Standards" gearbeitet habe. Gleichzeitig trage sie eine besondere Verantwortung für die Protagonistinnen und Protagonisten in den Reportagen. "In Abwägung der Reaktionen aus der Öffentlichkeit haben wir uns daher nach der ersten Veröffentlichung entschieden, von weiteren Dreharbeiten mit N. abzusehen."

"Wut- und Hass-Eskalation"

"Soziale Medien und einige klassische Medien fachen hier – wieder einmal – eine Wut- und Hass-Eskalation an, deren Ausmaß nicht einzuschätzen ist", warnt Prinzing. Das vergangene Wochenende sieht sie als Mahnung. N. wurde attackiert, als er mit dem Lieferwagenfahrer Olli W. in einem "Olli-Zei"-Fahrzeug, das polizeiähnlich dekoriert war, herumfuhr. Prinzing appelliert an Medien, ihrer Verantwortung gerecht zu werden: "Professionelles Berichten hat auch für Konfliktsituationen ein Werkzeug: deeskalieren, erklären, Luft rausnehmen." Als positives Beispiel erwähnt sie die Mitteldeutsche Zeitung, die an N.s Heimatort erscheine: "Sie berichtet nur spärlich, möglicherweise auch, weil sie nah dran ist. Aus der Distanz heraus fällt es leichter, jemanden an den Pranger zu stellen."

Beim Deutschen Presserat ist bis dato noch keine Beschwerde wegen überschießender Berichterstattung eingegangen, teilte das Gremium auf STANDARD-Anfrage mit.

Hat Stefan Raab seine Finger im Spiel?

Der Hype um N. treibt jedenfalls seltsame Blüten. Befeuert durch ein mysteriöses Video, gibt es etwa auch Spekulationen, dass er eine Kunstfigur und Marionette von Stefan Raab sein könnte. Der TV-Entertainer plant ja sein großes Fernsehcomeback. Dass er dafür einen 18-Jährigen instrumentalisiert und ihn dabei einem Mob zum Fraß vorwirft, traut man aber nicht einmal Raab zu. Und N. dementierte bereits, dass er für Raab arbeitet.

Der Fall erinnert Kritikerinnen und Kritiker entfernt an den "Drachenlord". Das ist jener deutsche Webvideoproduzent und Livestreamer, der Opfer von Mobbingattacken und einer Hetzjagd wurde. Wie es im Falle N.s weitergeht, dürfte nicht zuletzt von den Medienberichten abhängen. (Oliver Mark, 3.5.2024)