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Es muss ja nicht gleich ein Anzug sein.
Foto: AP / Virginia Mayo

In einem Monat wählen wir Abgeordnete zum EU-Parlament, und angeblich wird diesmal die Wahlbeteiligung höher sein. Das wäre gut, denn das geeinte Europa ist die beste Idee, die dieser Kontinent seit langem hatte. Aber abgesehen von den wirtschaftlichen und politischen Vorteilen, die die EU hat (und von denen gleich die Rede sein wird) – gibt es so etwas wie ein Gefühl, Europäer zu sein? Und wie viele in unserem Land haben dieses Gefühl? Gehört es zu unserem Leben, dieses geeinte Europa?

Natürlich gibt es auch dazu eine Umfrage – im Jahr 2023 fühlten sich rund 30 Prozent der Österreicher als "Bürger der EU". Das ist immer noch nicht genau dasselbe wie "sich als Europäer fühlen", aber immerhin. Ob man sich als Europäer fühlt, hängt vermutlich auch von den Lebensumständen ab, ob man den Kontinent einigermaßen kennt, bereist hat, anderssprachige Literatur oder Zeitungen liest und Kontakt mit anderen (nicht deutschsprachigen) Europäern hat.

Der Autor dieser Zeilen fühlte sich erst vor kurzem bei zwei eher zufälligen Gelegenheiten als Europäer – nämlich als Beschenkter einer ungeheuer reichen europäischen Kultur. Einmal, Donnerstagabend, bei der TV-Übertragung der neunten Symphonie Beethovens mit den Philharmonikern und Ricardo Muti aus dem Musikvereinssaal. Nicht weil die vertonte Ode an die Freude Friedrich Schillers die "Hymne" der EU geworden ist. Sondern weil dieses 200 Jahre alte Musikstück ein immer noch und auf ewig überwältigender Beweis für die absolute Unvergleichbarkeit europäischer Musik ist. So konnte nur ein Europäer komponieren. Ein paar Tage vorher ein ganz ähnliches Erlebnis in der Accademia in Venedig – die Fülle der überwältigenden Malkunst aus dem Mittelalter, der Renaissance und dem Barock von Bellini, Giorgione, Guardi, Mantegna, Tiepolo, Tintoretto und den anderen war so nur in Europa und nirgendwo anders möglich. Der leicht veraltete, vielleicht auch diskreditierte Begriff "Abendland" steigt da auf. Was immer unser anderes, düsteres Erbe ist – diese europäischen Titanenleistungen der Musik, der Literatur, der Malerei, Bildhauerei und Architektur sind unvergleichlich.

Gegenmodell Russland

Auf die in dieser Malerei verdichtete Religiosität folgte bekanntlich die Aufklärung. Und auch sie ist ein genuin europäisches Produkt. Ohne Aufklärung keine Moderne, kein freies Denken, kein Fortschritt. Europa hat zwar die inhumansten und geistig erstarrtesten Ideologien hervorgebracht – den Nationalsozialismus und den Kommunismus –, aber es hat sich davon befreit. Das aufgeklärte Europa hat die EU hervorgebracht, deren wirtschaftliche und politische Vorteile zu leugnen nur die Geistesfinsternis der Rechtsextremen von AfD über FPÖ zu Orbán und Le Pen zustande bringt. Dieses Europa ist nun bedroht – von innen durch die erwähnten Rechtsextremen, von außen durch den letzten Vertreter des russischen Imperialismus, Wladimir Putin. Russland kann nicht zulassen, dass sich die Ukraine und andere dem besseren europäischen, westlichen Modell anschließen, weil sonst die eigene Rückständigkeit zu offensichtlich würde. Daher betrachtet sich Putin gleich als mit dem gesamten "kollektiven Westen" im Krieg. Denn sein Russland ist das Gegenmodell zu Europa.

Deshalb ist es so wichtig, sich als Europäer zu fühlen, denn das bedeutet die Errungenschaften der Aufklärung, der Moderne, der demokratischen Kultur, des Individualismus und der Vielfalt verteidigen zu wollen. (Hans Rauscher, 11.5.2024)