Eine künstlerische Darstellung eines Schwarzen Lochs, das sich Material eines Nachbarsterns einverleibt.
NASA / CXC/ M. Weiss

Wer einem Schwarzen Loch zu nahe kommt, wird zu Spaghetti verarbeitet. Das ist keine freie populärwissenschaftliche Verbildlichung, sondern die gängige wissenschaftliche Bezeichnung eines realen physikalischen Effekts, der sich in unmittelbarer Nähe eines Schwarzen Lochs ereignet, wobei neben dem Ausdruck "spaghettification", zu Deutsch "Spaghettifizierung", auch der Terminus "noodle effect" verwendet wird. Derart farbenfrohe Witznomenklatur hat sich irgendwann im letzten Jahrhundert in der Physik durchgesetzt und unterscheidet sie von manchen traditionsbewussten Wissenschaftsdisziplinen, in denen aus Gründen der Klarheit immer noch gewichtig anmutendes Latein vorherrscht. Den Physikerinnen und Physikern scheint ob der untersuchten Absonderlichkeiten die Lust auf zur Schau getragene Ernsthaftigkeit irgendwann verlorengegangen zu sein.

Verantwortlich für den Nudeleffekt sind die Gezeitenkräfte in der Nähe eines Schwarzen Lochs. Durch das extrem schnelle Anwachsen der Schwerkraft beim Näherkommen wird jedes Objekt so sehr in die Länge gezogen, dass keine Kraft der Welt mehr ein Auseinanderbrechen verhindern könnte. Nur für extrem schwere, "supermassive" Schwarze Löcher gibt es von dieser Regel eine Ausnahme.

In der Theorie existiert also eine recht klare Vorstellung von den Vorgängen in der Nähe eines Schwarzen Lochs. Experimentell beobachtet wurden viele der vorhergesagten Effekte aber noch nicht. Nun erbrachte ein Team von Forschenden aus Großbritannien und den USA unter der Leitung der Universität Oxford den Nachweis für ein solches Phänomen, wovon eine neue Studie im Fachjournal Monthly Notices of the Astronomical Society berichtet.

Unwiderstehlicher Sog

Es geht dabei um eine dem Ereignishorizont des Schwarzen Lochs nahegelegene Region, also jenen Bereich, aus dem nichts mehr entkommen kann, selbst wenn es sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Bereits in dessen Nähe wird es extrem schwierig, sich dem Sog eines Schwarzen Lochs zu widersetzen. Es gibt eine Region, noch außerhalb der Zone der Spaghettifizierung, in der es Materie nicht mehr möglich ist, sich auf stabilen Kreisbahnen zu bewegen. Alles, was dorthin gelangt, stürzt über kurz oder lang zum Zentrum.

"Stellen Sie sich einen Fluss vor, der zu einem Wasserfall wird", erklärt Andrew Mummery von der Universität Oxford. "Bis jetzt haben wir den Fluss betrachtet. Dies ist unser ersten Blick auf den Wasserfall." Unerwartet war diese Beobachtung nicht, betont Mummery: "Einsteins Theorie sagt vorher, dass es diesen finalen Sturz gibt, aber das ist das erste Mal, dass wir demonstrieren konnten, dass er existiert."

Vom Fluss zum Wasserfall

Dafür untersuchte das Team relativ nah benachbarte Schwarze Löcher. Die Daten stammen von den Weltraumteleskopen Nustar, das 2012 startete, und Nicer, das 2017 im All ist und sich auf der internationalen Raumstation ISS befindet. Beide Teleskope zeichnen Röntgenstrahlen auf, wie sie von den heißen Scheiben aus Material rund um Schwarze Löcher ausgesendet werden. Für das Schwarze Loch MAXI J1820+070, das etwa die zehnfache Masse unserer Sonne hat und 10.000 Lichtjahre entfernt liegt, entdeckte man Röntgensignale, die mit gängigen Modellen nicht erklärbar seien, wie es in der Studie heißt. Sie würden aber sehr gut zu den errechneten Signaturen für Material innerhalb der möglichen stabilen Bahnkurven passt – also jenem "Wasserfall"-Bereich.

Eine künstlerische Darstellung des Nustar-Weltraumteleskops mit seinem zehn Meter langen Mast.
NASA/JPL-Caltech

Der Wert der Arbeit liegt nicht nur in einer weiteren Bestätigung für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, an der es innerhalb der Fachwelt kaum Zweifel gibt. Das Forschungsteam zeigt auf, dass es sich bei diesem inneren Bereich Schwarzer Löcher um eine wichtige Informationsquelle handeln könnte, die bisher ignoriert wurde und nicht Teil der gängigen Modelle war. "Das wirklich Aufregende ist, dass es in der Galaxie viele Schwarze Löcher gibt und wir jetzt eine leistungsstarke neue Technik haben, die wir zur Untersuchung der stärksten bekannten Gravitationsfelder nutzen", sagt Mummery. Es handle sich um eine direkte Informationsquelle vom unmittelbaren Rand eines Schwarzen Lochs, an dem Materie der stärkstmöglichen Gravitation ausgesetzt sei. So könnten sich zudem die Masse und der Drehimpuls Schwarzer Löcher bestimmen lassen.

Rotation ohne Haare

Es gibt ein weiteres aktuelles Ergebnis über Schwarze Löcher, das ebenfalls im Zusammenhang mit einer Perle der physikalischen Nomenklatur steht: dem "No-Hair-Theorem", das von der weitgehenden Eigenschaftslosigkeit Schwarzer Löcher handelt. Sie werden (vermutlich) nur durch ihre Masse, ihre elektrische Ladung und ihren Drehimpuls charakterisiert. Alle weiteren Charakteristika fehlen, insbesondere irgendwelche Unebenheiten, was der Vergleich mit einer Glatze illustrieren soll.

Doch auch diese drei Eigenschaften sind schwer zu fassen. Nun gelang es einem internationalen Forschungsteam von Instituten aus den USA, Tschechien, Großbritannien, Polen und Israel unter Beteiligung der US-Weltraumagentur Nasa, den Drehimpuls eines Schwarzen Lochs zu messen. Wie das Team in einer eben erschienenen Studie im Fachjournal Nature berichtet, deuten seltsame wiederkehrende Röntgenstrahlenausbrüche aus einer etwa eine Milliarde Lichtjahre entfernten Galaxie auf ein supermassives Schwarzes Loch in, das einen Stern verspeiste und dabei etwas über seine Rotation verriet.

"Verspeisen" ist diesmal tatsächlich nur ein Bild, der Vorgang heißt Tidal Disruption Event, was sich frei als "gezeiteninduziertes Zerreißen" übersetzen lässt. Schon länger war vermutet worden, dass solche Ereignisse sich für eine Bestimmung des Drehimpulses nutzen lassen könnten.

Fokus auf den Nachhall

"Der Schlüssel war, die richtigen Beobachtungen zu sammeln", sagt Studienautor Dheeraj "DJ" Pasham vom Massachusetts Institute of Technology. "Die einzige Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, ein Teleskop zu bekommen, das dieses Objekt kontinuierlich und über einen sehr langen Zeitraum beobachtet, sobald ein Tidal Disruption Event auftritt, sodass man alle möglichen Zeitskalen untersuchen kann, von Minuten bis zu Monaten."

Fünf Jahre hat Pasham auf ein solches Ereignis gewartet, das nahe und hell genug war, um das vorhergesagte Phänomen zu beobachten, der Lense-Thirring-Präzession genannt wird. Es handelt sich um einen Effekt der Relativitätstheorie, der dazu führt, dass rotierende Massen den Raum gewissermaßen mit sich ziehen und zum Taumeln zu bringen. Benannt ist er nach den österreichischen Forschern Josef Lense und Hans Thirring. In Februar hatte Pasham Glück. Das Beobachtungsprojekt Zwicky Transient Facility eines kalifornischen Observatoriums zeigte einen hellen Lichtblitz, der auf ein Tidal Disrupton Event folgte.

"Wir brauchten schnelle und hochauflösende Daten", sagt Pasham. "Der Schlüssel war, dies frühzeitig zu erkennen, denn diese Präzession oder dieses Taumeln sollte nur zu einem frühen Zeitpunkt vorhanden sein. Später würde die Akkretionsscheibe nicht mehr taumeln." Zum Glück lieferte auch hier das Nasa-Teleskop Nicer genau die richtigen Daten, um das gesuchte Verhalten der Scheibe zu zeigen.

Das Kürzel "NICER" steht für Neutron Star Interior Composition Explorer und soll das Innere von Neutronensternen untersuchen. Doch es liefert auch wertvolle Daten über Schwarze Löcher. Positioniert ist es an der Außenseite der Internationalen Raumstation ISS. Hier wird erklärt, wie es das Schwarze Loch MAXI J1820+070 untersuchte.
NASA Goddard

Langsames Loch

Die Geschwindigkeit sei mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit eher gering, erklärt das Team. Durch das Zusammenstürzen der Masse und die Tatsache, dass der Drehimpuls erhalten bleibt, beschleunigt sich die Rotation extrem. Stark beeinflusst wird die Rotation zudem von der weiteren Entwicklung. Wird sein Wachsen hauptsächlich durch hineinstürzendes Material verursacht, steigt die Rotationsgeschwindigkeit. Geht es eher auf die Verschmelzung mit anderen Schwarzen Löchern zurück, ist die Rotationsgeschwindigkeit tendenziell geringer, weil sich die Drehimpulse nicht notwendigerweise ergänzen. Der Wert des Drehimpulses erzählt also etwas über die Vergangenheit eines Schwarzen Lochs.

"Wenn wir in den kommenden Jahren mehrere Systeme mit dieser Methode untersuchen, können wir die Gesamtverteilung der Spins Schwarzer Löcher abschätzen und die seit langem ungelöste Frage verstehen, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln", sagt Pasham. Seine Hoffnungen liegen vor allem in neuen Teleskopen wie dem im Bau befindlichen Vera-C.-Rubin-Observatorium, das solche Beobachtungen künftig erleichtern wird.

"Der Spin eines supermassereichen Schwarzen Lochs verrät uns etwas über seine Geschichte", sagt Pasham. "Selbst wenn nur ein kleiner Teil der von Rubin erfassten Löcher ein solches Signal aufweist, haben wir jetzt die Möglichkeit, die Spins von Hunderten von Tidal Disruption Events zu messen. Dann könnten wir eine wichtige Aussage darüber treffen, wie sich Schwarze Löcher über das Alter des Universums entwickeln." (Reinhard Kleindl, 23.5.2024)