Christoph Boschan, Chef der Wiener Börse, steht vor dem Logo der Börse.
Christoph Boschan, Chef der Wiener Börse, spricht sich für einen Ausbau der betrieblichen und privaten Vorsorge aus.
APA/ROLAND SCHLAGER

Wien – Die gute Nachricht vorweg: Die Österreicher zeigen mehr Interesse am Kapitalmarkt und an Aktien. Jede vierte Person in Österreich besitze bereits Wertpapiere, sagte Börsenchef Christoph Boschan im Rahmen der Jahrespressekonferenz am Mittwoch. 21 Prozent der Österreicher seien an einem Kauf interessiert, zeigt die Umfrage Aktienbarometer 2024. Hervorgestrichen hat Boschan auch die gute Performance des Leitindex ATX. Nach wie vor komme es aber vor, dass Anleger den ATX mit dem deutschen Leitindex Dax vergleichen. "Dieser Vergleich hinkt", sagte Boschan. Der Dax ist ein Performance-Index, dessen Wert sich aus den Kursen und den Dividenden zusammensetzt. Der ATX jedoch ist ein Kurs-Index. Wer einen Vergleich zum Dax sucht, müsse den ATX-TR (Total Return) heranziehen, der so berechnet wird wie der Dax. Der ATX-TR hatte zuletzt am 21. Mai mit 8566,58 Punkten ein Rekordhoch.

Die Wiener Börse selbst hat im Vorjahr bei einem schwächeren Handelsvolumen ein Ergebnis vor Steuern von 47,9 Millionen Euro erwirtschaftet und knüpft damit an das Ergebnis von 2022 an. Etabliert wurde das Segment Vienna ESG für nachhaltige Anleihen, mit denen die grüne Transformation gefördert wird. Mehr als 100 grüne Anleihen von mehr als 30 Emittenten mit einem Emissionsvolumen von knapp 30 Milliarden Euro weist dieses Segment aus.

Politischer Wille fehlt

Doch es gibt noch viel zu tun am Kapitalmarkt. Und hier hapere es vor allem an der Politik, merkte Heimo Scheuch, Aufsichtsratsvorsitzender der Wiener Börse und Chef von Wienerberger, an. "Die politische Kraft zur Veränderung fehlt dieser Tage in diesem Land", sagte Scheuch mit Nachdruck. Es sei der Wiener Börse "trotz der Politik" gelungen, eine gute Performance abzuliefern. Dass es noch immer keine Einigung darüber gebe, die Behaltefrist für Aktien wiedereinzuführen, sei unverständlich. "Das sollte mit politischem Willen eigentlich nach fünf Minuten geklärt sein", sagte Boschan. Doch innerhalb der Koalition war hier keine Einigkeit herzustellen. Dabei erfülle der Kapitalmarkt eine wichtige Funktion. Studien zeigten, dass Staaten mit gut entwickelten Kapitalmärkten schneller transformieren und höhere Wachstumsraten aufweisen.

Eine Frau geht am Empfangstisch der Wiener Börse vorbei.
Das Interesse am Kapitalmarkt und an Aktien steigt in Österreich. Bereits jeder vierte Österreicher hat Wertpapiere.
heribert corn , corn@corn.at

In den kommenden Jahren werde es stark darum gehen, Innovationen zu fördern und zu finanzieren. Ohne Kapitalmarkt werde das nicht so gut gelingen. "Die Innovationskraft, die wir brauchen, muss auch finanziert werden", sagt Boschan. Dafür sei die Börse der ideale Ort. In Österreich würden mehr als 300 Milliarden Euro auf privaten Konten liegen. Dieses private Kapital zu fördern sei wichtig – auch in Bezug auf die eigene Altersvorsorge.

Private und betriebliche Vorsorge gehört ausgebaut

Der Ausbau der zweiten und dritten Säule der Pensionsvorsorge – also der betrieblichen und privaten Vorsorge – gehöre dringend gefördert, betonte Boschan. Die Schweiz etwa habe eine verpflichtende betriebliche Vorsorge, Schweden eine verpflichtende private Vorsorge, in Norwegen gibt es den Staatsfonds. "Die Modelle liegen auf dem Tisch, die Politik müsste es nur umsetzen", fasst der Börsenchef zusammen. Die derzeitigen Modelle der Vorsorge hätten mit der Kapitalgarantie einen "Konstruktionsfehler, und dieser ist politisch motiviert", sagte Scheuch. Würden Investments über einen längeren Zeitraum breit gestreut, sei das Risiko überschaubar. "Reguliert man mit einer Kapitalgarantie das Risiko weg, reguliert man auch die Chance auf Rendite weg", sagte Boschan.

Positiv sehen beide Kapitalmarktvertreter die im Bericht vom italienischen Politikwissenschafter Enrico Letta eingeforderte Kapitalmarktunion. Darüber rede die Politik gerne, übersehen werde dabei aber der wichtigste Punkt. "Es geht darum, nationale Kapitalsammelstellen zu schaffen", sagt Boschan. Und das gehe wiederum stark durch den Ausbau des Vorsorgesystems, also der privaten und betrieblichen Vorsorge. Dazu brauche es auch einen Kapitalmarktbeauftragten, "der nicht aus der Arbeiterkammer oder der Wirtschaftskammer kommt", sagte Scheuch. Es brauche jemanden, der vom Kapitalmarkt komme und die Themen auch richtig transportieren könne. Europa müsse in Summe mehr an seine eigene Macht glauben, betonte Scheuch. Das gelte auch für Österreich. "Wir sind nicht so schlecht, wie wir uns darstellen", betonte der Experte. Doch im Moment führe keiner dieses Land, schloss Scheuch seinen Seitenhieb auf die Politik. (Bettina Pfluger, 22.5.2024)