Nadal, wie man ihn kennt, liebt und fürchtet.
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Paris/Wien – Rafael Nadal war nie ein Mann der ganz großen Worte. Keiner, der große Töne spuckt, keiner, der eine Show abzieht, aber auch keiner, der sich unnahbar oder arrogant gibt. Ganz im Gegenteil. Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt. Denn Nadal war ein Mann der ganz großen Schläge. Wenn der Spanier heuer bei den French Open in Paris antritt, dürften es mit großer Wahrscheinlichkeit seine letzten sein. Der 37-jährige Körper zwickt, die Verletzungspausen werden länger, die Kämpfe um die Comebacks unerbittlicher. Zum Auftakt trifft er frühestens am Montag auf Alexander Zverev. Der Deutsche befindet sich in Topform, die Chancen stehen nicht schlecht, dass er Nadal aus dem Turnier und in die Geschichtsbücher des wichtigsten Sandplatzturniers der Welt schickt. Geschichtsbücher, für die der Mallorquiner Autor, Verleger und Protagonist sein könnte. Denn er hat dort auf der beeindruckenden Anlage im 16. Arrondissement am südlichen Rand des Bois de Boulogne in Paris eine der imposantesten Geschichten der Tennis-, ja der Sportwelt geschrieben. 14-mal stemmte er den silbernen "Coupe des Mousquetaires", den Musketierpokal in den französischen Himmel.

Zunächst zu den Zahlen, zu den Fakten, die den Rahmen der Geschichte bilden – und die so unglaublich sind, dass sie immer wieder dazu neigen, aus dem Kontext zu driften: Nadal trat bislang 18-mal in Roland Garros an, nur dreimal in 115 bestrittenen Partien ging er als Verlierer vom Court (plus eine w.o.-Niederlage), er gewann 97,3 Prozent seiner Matches. 346 gewonnenen Sätzen stehen 44 verlorene Sätze gegenüber, in den Jahren 2008, 2010, 2017 und 2020 marschierte er ohne Satzverlust zum Titel. Mehr davon? Okay: Zwischen 2010 und 2015 feierte der Spanier 39 Siege in Folge, 30 davon ohne Satzverlust. Insgesamt konnte er drei Siegesserien über 30 gewonnene Matches in Folge verbuchen. Seine Niederlagen sind bedeutend schneller aufgezählt als seine Triumphe: 2009 verlor er überraschend sein Viertelfinale gegen den Schweden Robin Söderling, zweimal musste er sich Novak Djokovic geschlagen geben (2015 im Viertelfinale und 2021 im Halbfinale).

Karrierenübergeifend

Besonders schlaue Füchse wissen, dass 18 Starts 18 Jahren gleichkommen: Nadal hat also Überbleibsel von späten Karrieren, aufstrebende Talente und große Spieler auf dem Höhepunkt ihres Schaffens auf seiner Abschussliste; also quasi alles, was in den fast vergangenen zwei Jahrzehnten im professionellen Stil auf einen Tennisball dreschen konnte. Alle wollten sie ihn, den König von Paris, stürzen, nur ganz wenige schafften es, ihn zu kitzeln. Wir sprechen wohlgemerkt nicht von einem Challenger in Antalya oder Mauthausen, die French Open sind nicht umsonst ein Grand-Slam-Turnier, nur die Besten der Besten dürfen überhaupt mitspielen. Das sitzt.

Ein vielleicht vergessener, aber gar nicht so unbedeutender Teil dieser unheimlichen Geschichte kommt aus Mülheim an der Ruhr, einer Stadt mit rund 173.000 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen. Lars Burgsmüller war 2005 schon länger auf der ATP-Tour, rückblickend war seine Karriere mit einem Weltranglistenhoch auf Platz 65 grundsolide bis stark. Im Mai 2005 lag der Deutsche auf Rang 96, und er war nicht sonderlich glücklich, als er seine Erstrunden-Auslosung für die French Open erfahren hatte. "Ich erinnere mich, dass ich wegen der Auslosung ein wenig traurig war", sagte Burgsmüller 2015 zu USA Today. "Ich wusste, dass er ein harter Gegner für mich sein würde. Jeder sprach über ihn. Er hatte eine gute Form. Er war auf dem Weg nach oben."

Der Anfang

Sein Gegner: ein 18-jähriger Spanier, der nach starken Ergebnissen bereits an Nummer fünf gesetzt war. Die Bühne: Court Suzanne Lenglen, der zweitgrößte Court der Anlage. Dieser Montag, der 23. Mai 2005, ging nicht wegen des packenden Matches in die Geschichte ein, Burgsmüller musste sich recht deutlich in drei Sätzen 1:6, 6:7 (4), 1:6 geschlagen geben, nein, es war der erste Auftritt jenes Regenten, der seine Herrschaft für eine lange Zeit nicht aufgeben würde. "Diese Dimension hatte damals keiner auf dem Schirm. Ich auch nicht. Für mich war es zunächst mal 'nur' ein Erstrundenmatch bei einem Grand Slam gegen einen 18-Jährigen aus Spanien", erinnert sich Burgsmüller bei Eurosport.

"Es ist eine der größten Herausforderungen im Sport, gegen Rafa auf diesem Platz zu spielen", sagte Novak Djokovic einmal. Und der Serbe ist bekanntlich auch kein Nudlaug seines Fachs. Aber was machte Nadal so gut, so besonders? In erster Linie ist da einmal der irre Topspin, den der Spanier mit dem Schläger und seiner linken Hand generiert. Der Ball springt mit hoher Beschleunigung und in einer Höhe auf, die für den Retournierenden ungemein unangenehm ist. Ein Schlag, den Nadal zur Perfektion beherrscht. Hinzu kommt ein giftiges Winkelspiel, das die Gegner ins Niemandsland des Platzes treibt. Und ist man einmal dort, kommt man nur schwer wieder zurück. Ein sehr gutes Spiel am Netz und vor allem eine Mentalität, in der Niederlage ein Fremdwort ist, runden alles ab: Nadal erarbeitete sich über die Jahre einen Status der Unbesiegbarkeit, eine Aura, die schon in den Köpfen der Gegner war, noch bevor der erste Ball übers Netz flog.

Das Leiden

"Er lässt dich leiden. Zuerst nimmt er dir die Beine, dann den Verstand", sagte der Norweger Casper Ruud einmal auf die Frage, wie es denn sei, gegen Nadal anzutreten. "Es ist ein bisschen so, als würde man gegen jemanden auf einer Play Station spielen, weil jeder Ball zurückkommt", findet der Russe Karen Khachanov, zweimaliger Viertelfinalist der French Open. Aber zurück zur Mentalität, zu einem Mindset, das die Größten des Sports von den sehr Guten abhebt. Startrainer Patrick Mouratglou sagte kürzlich in einem Podcast: "Man gewinnt ein Grand Slam nicht mit seinem Tennis, man gewinnt es mit seinem Mindset, mit seiner Persönlichkeit." Mit seinen 14 Triumphen in Paris hat Nadal insgesamt 22 Grand-Slam-Titel gewonnen.

Es ist gemeinhin bekannt, dass Nadal sich und seinen Gegnern keine Pause gönnt, keinen Durchhänger, kein Verschnaufen, kein Ausruhen auf den Lorbeeren des Vergangenen – sei es ein Punkt, ein Satz oder eine Siegesstrecke. Nadal spielt jeden Punkt, als wäre es sein letzter. Das musste auch Dominic Thiem leidvoll anerkennen, zwei Mal stand der Österreicher im Finale von Roland Garros, zwei Mal hieß der Gegner Nadal, zwei Mal gab es klare Niederlagen. 2019 konnte Thiem dem König immerhin einen Satz abknöpfen.

Das Ende?

Im Vorfeld seines wohl letzten Auftritts ist der König ein gefragter Mann. Alle wollen ein Stück Erinnerung, ein letztes Selfie, ein finales Augenzwinkern. Sobald sich Nadal im Umfeld des Stade Roland Garros bewegt, wird er auf Schritt und Tritt verfolgt – jeder will den Spanier auf seiner Abschiedstour noch mal zu sehen bekommen. Und auch die Konkurrenz streut Blumen, zu eindrucksvoll zieht sich die Vergangenheit noch in die Gegenwart. Vielleicht kommt zur Wehmut auch ein bisschen Erleichterung. "Wenn man über Roland Garros spricht und Nadal dort ist, ist er für mich immer der größte Favorit", sagte Titelverteidiger Djokovic im Vorfeld. "Nach all dem, was er auf den Plätzen von Roland Garros getan hat, ist es normal, ihn als den größten Favoriten zu sehen." (Andreas Hagenauer, 26.5.2024)