Am Freitag hielt Oppositionspolitiker Keir Starmer eine Rede im schottischen Glasgow.
AFP/ANDY BUCHANAN

"Change", also Veränderung, Wechsel – mit dem ebenso uralten wie bewährten Slogan aller Oppositionsgruppierungen in einer parlamentarischen Demokratie zieht die Labour Party in den britischen Unterhauswahlkampf. Nach vierzehn Jahren konservativer Regierung, predigt der Parteivorsitzende Keir Starmer der Wählerschaft, müsse am 4. Juli Schluss sein mit dem Chaos der fünf Tory-Premierminister. Das Land stehe schlechter da als 2010, "nichts funktioniert so richtig". Er selbst stehe für "das nationale Projekt einer Erneuerung".

Den visionären Vokabeln fügt Starmer mahnende Worte hinzu. Angesichts des schweren Schadens, den die Chaospremierministerin Liz Truss der britischen Wirtschaft 2022 binnen 49 Tagen zugefügt habe, dürfe man von ihm keine Wunder erwarten: "Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit." Sollte er in die Downing Street gewählt werden, werde es viele "schöne Labour-Vorhaben" geben, die sich nicht so leicht verwirklichen lassen.

Schon spotten sie in London über die Vorsicht des früheren Chefanklägers. Spielerisch fasst BBC-Moderator Nick Robinson die Rhetorik des 61-Jährigen zusammen: "Alles ist kaputt, aber viel verändern wird sich nicht." Ungeduldige Journalistinnen, überzeugte Labour-Anhänger, die Bediensteten im nationalen Gesundheitssystem NHS und in den öffentlichen Schulen – allesamt rollen sie heftig mit den Augen, wenn die Rede auf Starmer kommt: zu defensiv, zu abwägend, ziemlich boring (langweilig). Man müsse den Leuten Gründe liefern, damit sie ihr Kreuzchen bei der alten Arbeiterpartei machen, analysiert die Labour-nahe PR-Expertin Scarlett MccGwire: "Es stimmt schon, dass kein Geld in der Kasse ist. Aber er muss mehr über Positives reden."

Wenig Charisma

Im engeren Zirkel des wenig charismatischen Vorsitzenden hingegen scheint boring als Auszeichnung zu gelten. Sie verweisen auf die schwierige Ausgangslage: 2019 erlitt Labour unter dem Linksaußen Jeremy Corbyn die schlimmste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg, jedenfalls nach der Zahl der Unterhausmandate. Dem Uraltsozialisten Corbyn hing der Vorwurf des Antisemitismus wie ein Mühlstein um den Hals, auch bei den Finanzen, in der Wirtschafts- und Außenpolitik mochten ihm die Briten mehrheitlich nicht trauen.

Starmer hat sich demonstrativ von seinem Vorgänger und Londoner Wahlkreisnachbarn distanziert, diesen sogar aus der Partei geworfen. Er selbst ist von seiner sanft-linken Position in die rechte Mitte seiner Partei gerückt. Das flammende Bekenntnis zu Großbritanniens EU-Mitgliedschaft wurde vom gänzlich unkonkreten Wunsch nach "besserer Zusammenarbeit" mit Brüssel abgelöst. Der Mann habe "seine Seele verkauft, um Premierminister zu werden", sagt ein sympathisierender Labour-Insider hinter vorgehaltener Hand. Tory-Premier Rishi Sunak nennt Starmer einen "Mann ohne jede Überzeugung" und fragt: "Kann man so jemandem das Land anvertrauen?"

Labour liegt bei 20 Prozentpunkten Vorsprung

Warum denn nicht?, scheint darauf mehrheitlich die Antwort der Briten zu sein. Begeistert sind sie nicht gerade von Starmer, aber er weckt auch keine große Abneigung. "Schlechter als unter den Tories kann es eigentlich nicht werden" – immer wieder berichten die Demoskopen solche Sätze aus ihren Fokusgruppen mit Wechselwählern. Nach vierzehn Jahren konservativer Regierung sei jetzt einmal "der andere Haufen dran". Den Umfragen zufolge liegt Labour stabil um rund 20 Prozentpunkte vor den Tories, was am 4. Juli einem Erdrutschsieg gleichkäme. Tags darauf wäre Starmers erster Arbeitstag in der Downing Street.

Bereits der Wahlkampf verändert das Leben für den seit 2015 dem Unterhaus angehörenden "sehr ehrenwerten" Abgeordneten von Holborn und St. Pancras, für seine Frau Victoria, eine Anwältin im NHS, und für die beiden halbwüchsigen Kinder. Vier lange Jahre hat er als Leiter "Seiner Majestät loyaler Opposition" amtiert und dabei die komplette Machtlosigkeit dieses Postens erlitten.

Mögen seit der Jahrhundertwende auch die Regionsregierungen von Nordirland, Schottland und Wales mitzureden haben – in der "gewählten Diktatur" Großbritannien, von der einst der Verfassungsexperte Quintin Hogg sprach, bleibt die Macht doch in beinahe absolutistischer Weise in der Hand des Premierministers konzentriert. Der Oppositionsführer darf der Regierung unangenehme Fragen stellen und Alternativkonzepte für deren Gesetze vorlegen, Macht aber ist ihm nicht gegeben.

FC-Arsenal-Spiele im Pub

Das schlägt sich in der Behandlung durch Scotland Yard nieder. Natürlich erhält auch ein Oppositionspolitiker schon Sicherheitshinweise, notfalls ist der Staat auch bei notwendigen Umbauten behilflich. Doch konnte Starmer bisher weitgehend unbehelligt durchs Leben gehen. In seiner Nordlondoner Nachbarschaft traf man ihn regelmäßig im Pub an, wenn Spiele seines geliebten Fußballklubs FC Arsenal im Fernsehen übertragen wurden.

Im Wahlkampf ist nach der Auflösung des Parlaments die Regierung nach britischem Staatsverständnis nur noch geschäftsführend im Amt, die beiden wahrscheinlichen Anwärter auf das Amt des Premierministers werden gleichbehandelt. Also tritt nun für Familie Starmer das ganze Paket aus Personenschutz, gepanzerter Limousine und enger Überwachung in Kraft. Der Labour-Chef und die Seinen müssen sich an das Schicksal gewöhnen, das ihnen aller menschlicher Voraussicht nach vom 5. Juli an auf Dauer blüht. (Sebastian Borger aus London, 26.5.2024)