Sebastian Ofer
Sebastian Ofner ließ sich weder vom Gegner noch von der Entscheidung der Referees aus der Fassung bringen und setzte sich in fünf Sätzen durch.
AP/Blackwell

"Da kann ich aus Erfahrung sprechen. Ich bin wegen weniger disqualifiziert worden." Der frühere Tennisprofi und ehemalige Daviscup-Kapitän Stefan Koubek ist am Montag immer noch darüber empört, was sich am Sonntag in Paris zugetragen hat. Da hat der Franzose Térence Atmane, Nummer 121 der Welt, aus Frust nach einem verlorenen Punkt den Ball mit voller Wucht ins Publikum gedroschen und eine Frau am rechten Knie getroffen. Und dennoch durfte Atmane weiterspielen, nachdem und obwohl sich der Referee und auch der Oberschiedsrichter mit der Frau, die sich das Knie hielt, unterhalten hatten.

Für Koubek war das, wie er dem STANDARD sagt, "eine richtig schlechte Entscheidung des Supervisors. Wenn du den Ball so wegschießt und irgendwen triffst, ein Ballkind, einen Zuschauer, den Gegner, dann muss das Spiel vorbei sein. Das ist etwas anderes, als wenn du den Ball in hohem Bogen aus dem Stadion schießt. Das war ja ein echtes Brett, ein richtiger direkter Schuss." Ofner selbst sah es ähnlich. Im Servus-TV-Interview sagte er: "Ich hätte mir schon gedacht, dass es eigentlich vorbei sein müsste. Bei den Challengern sind die Strafen irre, und bei einem Grand Slam macht er so was und wird dafür nicht bestraft."

Wende und Ende

Der Vorfall ereignete sich im vierten Satz, Atmane war frustriert, weil Ofner der Partie eine Wendung gegeben hatte. Der 28-jährige Steirer, Nummer 45 der Welt, lag schon 3:6 und 4:6 zurück, gewann aber den dritten Satz noch 7:6 (2). Als sich der Vorfall ereignete, führte er im vierten Durchgang mit 4:1. Dass Ofner die Nerven behielt, obwohl Atmane, der sich bei der Zuseherin nicht einmal entschuldigte, nur verwarnt wurde, ist für Koubek alles andere denn selbstverständlich. "Das war sehr groß vom Ofi. In der Situation denkst du dir ja, dass es das jetzt gewesen ist. Da bist du mit einem Fuß schon in der Umkleidekabine. Aber er hat sich nicht rausbringen lassen." Ofner entschied den vierten Satz mit 6:2 für sich und setzte sich im fünften mit 7:5 durch.

Dass auf Court Nummer 12 niemand schwerer zu Schaden kam, war letztlich Glück. In der Reihe vor der Frau saßen mehrere Zuseher, an deren Köpfen der Ball knapp vorbeiflog. Koubek: "Das war richtig gefährlich." Der Kärntner erinnert sich daran, wie er während eines Spiels einmal aus Frust seinen Schläger zur Bank werfen wollte. Das war übrigens ebenfalls bei den French Open, im Jahr 2000 während der Zweitrundenpartie gegen den Ungarn Attila Sávolt. Der Schläger sprang über die Bande und streifte einen Ballbuben am Rücken. Über seine Disqualifikation, so Koubek, gab es "nichts zu diskutieren". Auch wenn der Vorfall vergleichsweise "recht harmlos" gewesen sei.

Disqualifizierter Djoker

Zwanzig Jahre später wurde der Nächste bei einem Grand-Slam-Turnier disqualifiziert, diesmal war es ein richtig Großer. Bei den US Open, die später der Österreicher Dominic Thiem für sich entscheiden sollte, erwischte es im Achtelfinale den Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic, der mit einem Frustball eine Linienrichterin am Kehlkopf traf. "Es spielt keine Rolle", so Koubek, "ob es Absicht war oder nicht."

Stefan Koubek
Stefan Koubek lobt seinen Landsmann Ofner: "In der Situation denkst du dir ja, dass es das jetzt gewesen ist. Da bist du mit einem Fuß schon in der Umkleidekabine. Aber er hat sich nicht rausbringen lassen."
Imago/Zimmer

Laut Eigenangabe ist Koubek "oft emotional" gewesen. Eher Absicht war, was seine berühmte Disqualifikation gegen Daniel Köllerer bedingte. Im Juni 2010 gerieten die beiden während einer Bundesligapartie aneinander, zunächst verbal, Koubek wollte aus dem Wort seines Gegners eine derbe Beleidigung vernommen haben. Köllerer bestritt, dass das Unwort seinen Mund verlassen hatte. Der Schiedsrichter hatte es auch nicht gehört, sagte er. So oder so ging Koubek Köllerer an die Gurgel – und wenig später vorzeitig vom Platz.

Vermuteter Heimvorteil

Im aktuellen Fall Atmane ist Koubek überzeugt, dass es ganz andere Konsequenzen gegeben hätte, wenn nicht ein Franzose, sondern beispielsweise Ofner der Verursacher gewesen wäre. "Es hätte wahrscheinlich keine zehn Sekunden gedauert, und der Ofi wäre disqualifiziert gewesen. Er hat sich völlig zu Recht darüber aufgeregt. Die Entscheidung war eine absolute Frechheit, ein Wahnsinn, ein Skandal. Und umso sensationeller ist es, wie der Ofi die Partie gedreht und das auch bis zum Schluss durchgezogen hat."

Der von Dominic Thiems Vater Wolfgang betreute Ofner, der im Vorjahr bis ins Achtelfinale vorstieß und ergo heuer viele Punkte zu verteidigen hat, konnte am späten Sonntagabend nach 3:35 Stunden "megahappy" sein, er sprach von einem "richtig guten Sieg". Sein Zweitrundengegner ist entweder der als Nummer 20 gesetzte Argentinier Sebastian Baez oder der brasilianische Qualifikant Gustavo Heide. Deren Duell war noch für Montag angesetzt. (Fritz Neumann, 27.5.2024)