Der völkerrechtliche Grundsatz von der Freiheit der Meere ist zumindest in Friedenszeiten bisher unzweifelhaft gewesen. Aber spätestens, seitdem Russland mit zwei Mini-U-Booten namens Mir – Frieden – medienwirksam seine Flagge in den Grund des Nordpols gerammt hat, ist es mit dem Frieden im Polarmeer vorbei. Und je nachdem, wie über die immer schärfer artikulierten Besitzansprüche der Anrainerstaaten Russland, Dänemark, Kanada, USA_und Norwegen in der Arktis entschieden wird, könnte auch die Freiheit des Polarmeeres bald Geschichte sein. Teilweise zumindest.

Die Arktis ist zwar längst noch nicht geschmolzen. Und es könnte nach derzeitigem wissenschaftlichen Stand noch bis 2100 dauern, bis Teile der Arktis aufgrund des fortschreitenden Klimawandels einige Monate im Jahr eisfrei sind und passierbar werden, wie der Polarforscher Heinz Miller vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung im deutschen Bremerhaven sagt. Aber allein die Aussicht auf eine bessere Zugänglichkeit dieses Gebietes weckt Begehrlichkeiten – werden dort doch Reichtümer in Form von Rohstoffen, wie Öl und Gas vermutet. Dafür gibt es zwar noch keinerlei Belege, wie Experten betonen. Trotzdem schickt ein Anrainerstaat nach dem anderen seine Forscher an den Pol, um anhand wissenschaftlicher Daten zu belegen, dass ihm mehr des arktischen Kuchens zusteht als bisher vorgesehen.

Eine Zone von 200 Seemeilen ab der Küste steht den Staaten laut UN-Seerechtskonvention zu. Bei einem UN-Gremium mit dem sperrigen Namen Festlandsockelgrenzkommission können die Anrainer eine Ausweitung der Zone auf insgesamt maximal 350 Seemeilen beantragen – falls sich wissenschaftlich nachweisen lässt, dass der eigene Festlandsockel über die 200 Seemeilen hinausreicht.Die USA allerdings nicht: Sie sind dem Abkommen nicht beigetreten. Norwegen hat im vergangenen Jahr einen Antrag eingereicht, Russland schon 2001 – aber ohne ausreichende Belege, wie die Kommission entschied, so dass auch Moskau weiter Daten sammeln muss.

Nur: Was ist ein Festlandsockel? – Da wird es schwierig, vor allem Russland drängt auf eine De-facto-Ausweitung der Definition. Knackpunkt: Ein Unterwasser-Gebirge, der so genannte Lomonossow-Rücken, der das Polarmeer durchquert und damit weit ins internationale Gewässer hineinreicht. Moskau will beweisen, dass es zu seinem Festland gehört. Vor allem dort werden Öl- und Gasreserven vermutet. Aber: „Bergrücken der Tiefsee sind meiner Ansicht nach kein Festlandsockel“, sagt Uwe Jenisch, Seerechtsexperte von der Universität Kiel. Da seien sich viele Fachleute einig.

Eine Anerkennung des Unterwasser-Gebirges als Teil eines Festlands könnte aber auch weitreichendere Fragen aufwerfen, unabhängig von der Arktis, befürchtet der Experte. „Natürlich werden Staaten, die selber Ambitionen haben in anderen Teilen der Welt, sagen: Wenn die Russen damit durchkommen, dann könnten wir ja auch hier und da noch ein bisschen was ...“, sagt Jenisch. Dann würden mehr Teile der internationalen Gewässer in nationalen Besitz übergehen. Und konsequent gedacht könnte auch Grönland über Dänemark am anderen Ende des Lomonossow-Rücken, im Einklang mit der russischen Logik, Ansprüche auf das Unterwassergebirge stellen – "und dass der dänische Anteil bis Sibirien reicht, bitteschön".

Theoretisch sind laut Jenisch rund 40 Situationen denkbar, in denen Küstenstaaten vor der UN-Komission auf eine Erweiterung ihrer Ländergrenzen pochen können. Das Nachsehen hätten Staaten wie Österreich, die keine Küste haben – und darauf angewiesen sind, in internationalen Gewässer forschen und Rohstoffe fördern zu können. (Julia Raabe, DER STANDARD, Print, 22.8.2007)