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Jedes fünfte Raubopfer wird in Großbritannien mit einem Messer bedroht

Foto: Jeff J Mitchell/ Getty Images

Von Sebastian Borger aus London

Vor rund einem Jahrzehnt war Frances Lawrence schon einmal in den Schlagzeilen. Nachdem der zur Tatzeit 15-jährige Mörder ihres Mannes zu mindestens zwölf Jahren Haft verurteilt worden war, rief die Londoner Lehrerin und Mutter von vier Kindern einen Kreuzzug gegen die Gewalt auf britischen Straßen ins Leben. Sie gab ein Manifest heraus, in dem sie eine nationale Anstrengung zur Eindämmung der Gewalt und zur Wiederbelebung bürgerlicher Tugenden forderte, sodass Kinder wieder in das Familienleben integriert werden könnten.

Besserer Lohn für Lehrer und Polizisten

Lawrence erntete viel Zustimmung vonseiten der Politik, manche ihrer Ideen wurden von der Labour-Regierung umgesetzt. So enthält der Lehrplan für Primarschulen inzwischen das Fach Bürgersinn; Lehrer und Polizisten werden deutlich besser entlohnt als vor zehn Jahren; der Besitz von Kampfmessern wie jenes, dem Stephen Lawrence zum Opfer fiel, wird deutlich härter bestraft.

Doch wie im Advent 1995 steht die britische Gesellschaft auch in diesen trüben Augusttagen ratlos vor einer Serie übler Gewalttaten. Kaum eine Woche vergeht ohne Messerstecherei mit tödlichem Ausgang; erst am vorigen Wochenende traf es einen 16-Jährigen vor einem Schnellrestaurant in Manchester.

Studie angezweifelt

Einer Studie des Kriminologiezentrums am King's College zufolge hat sich die Zahl der Straftaten, bei denen ein Messer im Spiel war, in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppelt. Jedes fünfte Raubopfer wird mit einem Messer bedroht; durchschnittlich 175-mal am Tag wird ein Engländer oder Waliser Opfer eines Messerräubers.

Das britische Innenministerium zieht die Zahlen der Wissenschafter in Zweifel: Es gebe keinen "statistisch relevanten Zuwachs" an Gewaltkriminalität mit Messern. Das Thema ist höchst brisant für eine Regierung, die vor zehn Jahren mit dem Slogan "Kampf der Kriminalität und Kampf den Ursachen der Kriminalität" ins Amt kam.

Rechte von Verbrechensopfern

Und akkurat jetzt steht auch Frances Lawrence wieder im Scheinwerferlicht. Denn der Mörder ihres Mannes soll entgegen allen Versprechen der Justizverwaltung nach Verbüßung der Mindeststrafe von zwölf Jahren nun doch nicht nach Italien abgeschoben werden. Diese Gerichtsentscheidung habe sie "in völlige Verzweiflung" gestürzt, sagt Lawrence und pocht auf die Rechte von Verbrechensopfern.

Unterstützt wird sie dabei von Oppositionsführer David Cameron. Der jung-dynamische Parteichef der Konservativen hat harte Wochen hinter sich: Während Labour im letzten Jahr unter Tony Blair dauerhaft deutlich hinter den oppositionellen Tories lag, kann sich die Regierungspartei seit dem Amtsantritt von Gordon Brown neuerdings wieder im Wohlwollen der Wähler sonnen.

Schuldzuweisungen

Jetzt wird Cameron offensiv. In Teilen des Landes herrsche Anarchie, sagt er mit Verweis auf die Verbrechenswelle: "Wir haben es mit einer stark beschädigten Gesellschaft zu tun, und der langjährige Schatzkanzler Brown trägt dafür die Verantwortung."

Justizminister Jack Straw hat Frances Lawrence eilfertig ein Treffen angeboten. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell sich der Eindruck von einer "zerrissenen Gesellschaft" festsetzen kann. So eine Gesellschaft könne erst dann wieder mit sich versöhnt werden, "wenn die Schuldigen nicht mehr an der Macht sind", sagte vor elf Jahren der damalige Oppositionsführer. Der Mann hieß Tony Blair, seine Partei ist seit mehr als zehn Jahren an der Regierung. (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD Prinbtausgabe 23.8.2007)