Dr. Cengiz Günay.

Foto: DER STANDARD/Austrian Institute for International Affairs
Cengiz Günay glaubt nicht, dass das Militär auf die Wahl Güls reagieren wird. Die AKP stärke aber den konservativen Lebensstil und der soziale Druck wachse, sagte er zu Adelheid Wölfl.

*****

STANDARD: Die Nationalisten (MHP) werden die Wahl Güls nicht boykottieren. Weshalb?

Günay: Da ist kein großartiger politischer Deal dahinter. Das Kalkül ist, dass sich die Wählerschichten der AK-Partei und der MHP in Zentralanatolien, wo die Nationalisten stark sind, sehr ähneln. In diesem wertkonservativen Landstrich zählt der Einwand, dass Gül ein religiöser Muslim ist, kaum. Die konservativen Schichten würden sich eher ärgern, wenn Güls Wahl verhindert würde.

STANDARD: War es von der AKP schlau, Gül zu nominieren?

Günay: Politisch ist es mehr als logisch, dass man nach einem fulminanten Wahlsieg wieder den gleichen Kandidaten nimmt. Ob es politisch klug ist, weiß ich nicht. Denn das eigentliche Ziel der AK-Partei ist eine grundlegende Reform des Staatsapparats und Verfassung. Ich glaube aber, Erdogan wollte Gül gar nicht nominieren, weil er sich selbst damit eine Zukunft im Präsidentenamt verbaut. Wenn Gül als Präsident populär ist, ist es ja unwahrscheinlich, dass Erdogan in sieben Jahren kandidiert. Gül hat bisher immer einen Schritt zurückgemacht, er war der prädestinierte zweite Mann. Und nun hat Erdogan auffallend lang zur Kandidatur geschwiegen, und dann war es Gül, der sie bekannt gab.

STANDARD: Wie wird das Militär auf die Wahl Güls reagieren?

Günay: Es wird sich nicht zu Wort melden. Denn es hat verstanden, was es bedeutet, wenn man sich zu Wort meldet. Wahrscheinlich ist eine Abwarte-Politik. Falls notwendig, kann man ja hinter den Kulissen mahnen.

STANDARD: Wie berechtigt ist die Angst, dass Leute wie Gül eine Islamisierung betreiben?

Günay: So wie er sich verkauft, sieht es aus wie eine Wandlung von Saulus zu Paulus. Er hat einen traditionellen, konservativen, anatolischen Background, als Außenminister hat er aber proeuropäisch agiert und war ein Motor für Reformen. Die AKP-Führung hat sich schon durch die Regierungsverantwortung geändert. Sie hat erkannt, dass es anders als in den 1990er-Jahren mit Gewalt nicht funktioniert, weil das zu Polarisierung führt und wichtige gesellschaftliche Kreise den Laizismus auf keinen Fall in Gefahr bringen werden. Wenn er eine verdeckte Agenda hätte, hätte Gül sich schon längst verraten. Er ist nun irrsinnig bemüht, auf alle zuzugehen, er will ein Volkspräsident sein.

STANDARD: Mit der Wahl Güls dominiert die AKP nun in den politischen Spitzenpositionen.

Günay: Dass eine Partei sämtliche Schlüsselpositionen besetzt, ist demokratiepolitisch in keinem Land eine gesunde Konstellation. Das Problem ist aber nicht die Person Gül, sonder dass er aus der islamistischen Bewegung kommt. Denn tatsächlich ist durch die AKP eine neue islamische Bourgeoisie entstanden. Allerdings nicht erst in den vergangenen vier Jahren, sondern schon, als die Islamisten in die Stadtverwaltungen einzogen und verstärkt Aufträge bekamen.

Dadurch wurde und wird ein konservativerer Lebensstil allgemein akzeptierter. Der soziale Druck in den mittelgroßen Städten wächst. Meine Hauptsorge ist, dass es dort für Frauen, für die Aleviten und für jene, die nicht fasten wollen und die kein Kopftuch tragen, schwieriger wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.8.2007)