Jedes Land pflegt seinen eigenen Mythos - doch der rot-weiß-rote wird jetzt wieder besonders hochgehalten: Seit es eine der Perspektivengruppen der ÖVP gewagt hat, die Entsorgung der Neutralität anzuregen, legen sämtliche Parteichefs Treueschwüre auf die entsprechenden Passagen des Verfassungsgesetzes ab. Der schwarze Vizekanzler bremst seine Nachdenker sofort ein, der rote Kanzler ruft seinen Koalitionspartner auf, "die Verunsicherung zu beenden", die grün-blau-orange Opposition gibt sich hellauf empört.

Doch das Spektakel dient nur dazu, um es den neutralitätsgläubigen Österreichern recht zu machen. Hierzulande lehnen noch immer fast achtzig Prozent jeglichen Angriff auf die Neutralität ab. Und deswegen wird ihnen statt eines aufwändigen Richtungsstreits nur einfacher Populismus serviert.

Denn was die Parteien unter den Tisch kehren: Ein gemeinsames Sicherheitskonzept der Europäischen Union, zu dem sie sich mehrheitlich sehr wohl bekennen, bedeutet natürlich eine völlige Aushöhlung der Neutralität, die mit dem Unions-Beitritt ohnehin schon zurückgestutzt wurde. Ebenso verschweigen die Verantwortungsträger, dass von Österreich als EU-Mitglied vielleicht schon bald Solidarität statt Neutralität gefordert sein kann. Etwa wenn die EU-Battle-Groups, für die auch unser Land Soldaten bereitstellt, ausrücken, um irgendwo auf der Welt einen internationalen Krisenherd zu "beruhigen" - übrigens ein täuschend harmloser Terminus für das Dabeisein an einem bewaffneten Konflikt, bei dem es niemals unblutig zugehen kann.

Doch all das will das Wahlvolk nicht wahrhaben. Deswegen schrecken SPÖ wie ÖVP wider besseren Wissens davor zurück, als Neutralitätsabschaffer in die Geschichte einzugehen. Deswegen gerieren sich die Grünen trotz ihres sonst so uneingeschränkten Ja zu Europa als pazifistische Neutralitätshüter. Und deswegen bekennen sich sogar die Erben der einst so von der Nato überzeugten FPÖ plötzlich zur immerwährenden Neutralität. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.8.2007)