Wer Abdullah Gül genau zugehört hat, den hat die Entschlossenheit, mit der er an seiner Kandidatur festhielt, obwohl die Türkei genau deswegen in eine Staatskrise schlitterte, nicht wirklich gewundert. Schon im Frühjahr klang er wie einer der glaubt, eine Mission erfüllen zu müssen, als er sagte: "Es ist aussichtslos, dass ich die Kandidatur aufgebe. Die Entscheidung darüber ist nicht über Nacht gefallen."

Der Mann, der so vertrauensbildend lächeln kann, hat unmissverständlich Willen zur Macht gezeigt, auch weil er nicht ewig der Zweite sein wollte und weil er darauf zählen konnte, dass der Erste, nämlich Premier Recep Tayyip Erdogan, wusste, was er ihm zu verdanken hat. Gül hatte mehrmals für Erdogan zurückgesteckt. Güls Wahl zum Präsidenten hat aber weit grundsätzlichere Fakten für die Türkei geschaffen: Das Militär ist geschwächt, und die demokratischen Regeln sind gestärkt, das ist begrüßenswert. Die Islamisten sind auf dem Vormarsch, und das macht Angst.

Nicht nur wegen der Dominanz der AKP - der Präsident ernennt die obersten Richter, die Minister, aber auch die Uni-Rektoren - Gül ist so überzeugt davon, auf dem richtigen Weg zu sein. Und dieser Vormarsch der Frommen und Überzeugten macht Druck auf die, die nicht fasten, nicht beten, und auf Frauen, die kein Kopftuch tragen wollen. Die Schriftstellerin Latife Tekin sagte kürzlich: "Ich werfe den Verhüllten vor, dass sie dieses patriachalische Spiel als ,sittlich Gute' mitmachen und den Druck auf mich hinnehmen."

Angesichts einer Präsidentengattin, wie Hayrünnisa Gül, die glaubt, sie sei eine moderne Frau, bloß weil sie Auto fährt - nämlich ihren Mann zur Arbeit und ihre Kinder in die Schule -, ist die Forderung nach mehr Schutz für jene Frauen, die keinen Turban wie Frau Gül tragen, legitim.

Zudem haben sich Institutionen des Gegendrucks, wie die Opposition, als zumindest teilweise unglaubwürdig erwiesen. Die kemalistische CHP diskredidierte sich mit nationalistischen Sprüchen und machte den Eindruck, dass ihr die proeuropäische Haltung der AKP mindestens so unheimlich ist wie ihre Religiosität.

Es fehlte in der Opposition - nicht in den Medien - an säkularen Kräften, die ihren angststarren Blickwinkel erweiterten. Es kann ja durchaus sein, dass einige in der AKP die staatliche Kontrolle über die Koranschulen verringern wollen, wenn sie die Abschaffung des verpflichtenden Religionsunterrichts fordern. Liberale Verfassungsrechtler wie Zafer Üskül wollen hingegen damit einen noch laizistischeren Staat bauen. Und auch die Üsküls erhielten unter der AKP Einfluss. Bisher zumindest.

Die Partei muss gerade wegen ihrer Machtfülle jetzt beweisen, dass sie die Demokratisierung des Landes tatsächlich vorantreibt. Es geht darum, die Willkür einzuschränken - auch die eigene. Denn die AK-Partei hat selbst in den vergangenen Jahren Klientilismus betrieben und ihre Leute ganz nach altem Muster in der Bürokratie verankert.

Entscheidend wird sein, ob die Regierung endlich und diesmal nachhaltiger die Rechte der Minderheiten gewährleisten wird - etwa Kurdisch als Unterrichtssprache einführt -, ob sie einen weniger selbstgerechten, aber auch weniger ängstlichen Blick auf die eigene Geschichte und Identität fördern, insbesondere den Genozid an den Armeniern diskutieren und ob sie die Justiz vor den Einflüsterungen der Armee und der Politik schützen wird.

Die Partei, die von dem Wirtschaftsboom profitierte, kann aber vor allem Stabilität erzeugen, wenn sie endlich auch für mehr soziale Gerechtigkeit sorgt und nicht nur Almosen verteilt.

Nicht die Kemalisten und nicht die eigene fromme Klientel aus Zentralanatolien, sondern die proeuropäischen Kräfte und ihre Freunde in EU-Europa, die Linken, Liberalen und Minderheiten - vor allem die Kurdenfraktion -, die der AK-Partei Reformen zutrauen und dies in Wählerstimmen ausdrückten, können den richtigen Druck dafür erzeugen. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.8.2007)