"Pflegegarantie für Alte muss als Grundrecht in die Verfassung", fordert Vogt.

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Der Arzt, der den Gesundheitsökonomen misstraut: Werner Vogt.

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Wider den Rationalisierungswahn im Gesundheits- und Pflegesystem: Zehn Thesen für eine nachhaltige Sicherung der österreichischen Versorgungsstrukturen für Kranke und Betreuungsbedürftige, vorgestellt bei den Gesundheitsgesprächen in Alpbach.

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1. Nachhaltige Sicherstellung von Versorgungsstrukturen ist kein ökonomisches, sondern ein sozial- und gesundheitspolitisches Gestaltungsproblem. Freier Zugang für alle in das Gesundheitssicherungssystem und garantierte Pflege und Betreuung für bedürftige Alte müssen als Grundrecht in die Verfassung.

2. Jedes Gesundheitsproblem wird zum sozialen Problem oder wird durch soziale Probleme verursacht. Auch die Umkehrung gilt. Jedes soziale Problem wird zu einem Gesundheitsproblem oder wird durch dieses verursacht. Die Individualisierung von Krankheit und deren Verursachung (Selbstschuldtheorie) ist daher abwegig. Kein lebender Mensch ist austherapiert, lehrt uns die Palliativmedizin und sie ist der älteste Zweig der Medizin. Die Unterteilung der Menschen in Patienten und Pflegepatienten unterliegt einem falschen ökonomischen Prinzip und ist wissenschaftlich nicht haltbar.

3. Soziale Sicherheit und Chancengleichheite, realisiert in einem für alle offenen Gesundheits- und Betreuungssystem, garantiert in der Bundesverfassung, ist daher Aufgabe des Bundes. An der Aufbringung der Mittel für sozialstaatliche Einrichtungen beteiligen sich alle Bürger durch Beiträge, Steuern aus Arbeit und Vermögen. Aber wirklich alle. Auch die "Stifter".

4. Behandlung ohne anbindende Nachbehandlung ist Unsinn. Daher: Garantierte Rehabilitation für alle. Auch für alte Menschen. Pflegende Angehörige von Demenzerkrankten stehen unter Dauerbelastung, sind in großer Not. Gegenstrategie: Demenzkampagne für ganz Österreich, direkte Entlastungsangebote durch multiprofessionelle Teams (Bringschuld), vorderhand als Pilotprojekt des Sozialministeriums in Wien, Salzburg, als Pilotprojekt der Österreichischen Alzheimergesellschaft (ÖAG) in der Steiermark. Start: 1. 1. 2008.

5. Die großen Institutionen des Sozialstaates (GKK, AUVA, PVA) sind Eigentum der Versicherten und so Gesicherten und nicht Eigentum der jeweiligen Regierung. Das, derzeit fast bedeutungslose, Prinzip der Selbstverwaltung ist durch Direktwahlen von Bürgerkandidaten in die Körperschaften zu revitalisieren.

6. Forschungsförderung in Medizin und Pflege darf nicht zum Spielball der vermögenden und bestimmenden Arzneimittelindustrie, der technischen Zulieferindustrie und anderer Mitspieler am Gesundheits- und Pflegemarkt verkommen. Der Staat muss die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Forschung garantieren und die Etablierung gewinnträchtiger Irrlehren und Irrwege (einzig ärztlicher Wille: die Pille) verhindern.

7. Die Präventivmedizin ist verkommen zum Aufruf: "Lebe gesund, ernähre Dich gesund, bewege Dich gesund". Risikogruppen der Bevölkerung - Raucher, Trinker, Bewegungsarme - werden nahezu verfolgt. Risikoträchtige Lebensbedingungen - Hetze in und auf dem Weg zur Arbeit, Schlafstörungen durch Lärm und Abgase, Abdriften in Armut und Elend - bleiben unbeachtet. Die bisher einzige gute und erfolgreiche primärpräventive Institution, jene der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA) wurde in den letzten Jahren politisch ruhiggestellt. Sie müsste genützt werden.

8. Hektik und Hetze allüberall, Minutenmedizin und Minutenpflege in fast allen Gesundheits- und Betreuungseinrichtungen. Gegenprinzip: Entschleunigung . Begriffe wie Effizienzsteigerung und Rationalisierung sind des Teufels.

9. Vor Jahrzehnten beklagten die Demoskopen eine drohende, sinkende Lebenserwartung. Seit, hierzulande, die Lebenserwartung endlich und als Ergebnis des Wohlfahrtsstaates steigt (wie lange noch?), ist dies der große Demoskopenjammer, verursacht Geschrei bei meist selbst ernannten Gesundheitsökonomen. Begriffe wie "Kostenexplosion" verstellen die Sicht auf die real existierende "Gewinnexplosion" auf dem Gesundheits- wie auch auf dem Pflegemarkt. Und sie verstellen die Sicht auf die explodierenden Selbstbehalte der Bevölkerung, dieser schleichenden Unterminierung des solidarischen Systems.

10. Die Zurufe gesundheitspolitisch völlig inkompetenter Institutionen wie dem Rechnungshof, die gebetsmühlenartigen Aufrufe zum Abbau von Spitalsbetten zu Lasten von Patienten und Pflegepatienten sind als Angriff auf die nachhaltige Sicherung von Versorgungsstrukturen zu verstehen. Spitäler und Spitalsbetten haben auch dann ihre Berechtigung, wenn sie nur als vorübergehende Unterkunft Unbehandelter oder Unterbehandelter, von Unbetreuten oder Unterbetreuten zur Verfügung stehen. Die soziale Indikation für ein Spitalsbett und eine Spitalsaufnahme muss nachhaltig erhalten bleiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.8.2007)