Bildungsexperte Gruber zum Streitfall "Nachhilfe statt Studiengebühren": „Wird zum Beispiel interessant sein, zu erfahren, wie die städtischen Studierenden _zu den Nachhilfeschülern im Seewinkel und im Pitztal kommen."

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Ich bin’s, euer Nach_hilfelehrer: Gusenbauer- Visite in der Österreichischen Schule in Guatemala. Wo der Kanzler _im Inland pädagogisch aktiv ist, ist allerdings nach wie vor geheim.

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Österreichische Schüler haben abermals die bekümmerliche Erfahrung gemacht dass die zweite Ferienhälfte nur halb so lang war wie die erste. In Familien mit Schulkindern hat die teils beiläufig-gelassene, teils hektisch-besorgte Annäherung an das kommende Schuljahr begonnen. Im ersten Falle werden die Kinder ermuntert, jeden Tag ein bisschen etwas zur Auffrischung der Erinnerung an das Vorjahr zu tun: ein paar Übungsbeispiele aus dem Mathe-Buch, Ablativus absolutus und Genitivus partitivus, eine Viertelstunde „French without tears“. Zahlreiche Eltern, deren Kind eine Nachprüfung bevorsteht (nach Angaben der Arbeiterkammer ist dies heuer bei 33.000 Schülern der Fall) haben in der Hoffnung, ihrem schulischen „Minderleister“ dadurch ein Desaster zu ersparen, in den vergangenen Wochen zu bezahlter Nachhilfe Zuflucht genommen.

Vor kurzem fand in Paris eine von der UNESCO veranstaltete internationale Konferenz über „Die pädagogische Schattenwirtschaft“ statt. Es ging dabei um die Gründe für die gewaltige weltweite Expansion des Nachhilfewesen, um die große Bandbreite der Erscheinungsformen von „private tutoring“, um seine Rückwirkungen auf das öffentliche Schulsystem, um die bedenklichen sozialen Nebenwirkungen und nicht zuletzt um die Art und Weise, wie Bildungspolitik und Schulverwaltung mit dem Phänomen umgehen.

Bis vor wenige Jahre traf für die meisten europäischen Länder der Begriff „pädagogische Schattenwirtschaft“ tatsächlich zu. Private Nachhilfe wurde von den Eltern eher verschwiegen, von den Schulbehörden weitgehend ignoriert und war für die Finanzämter unsichtbar. Seit einigen Jahren wandelt sich das Bild. Neben das häusliche „Kleinstgewerbe“ einzelner Studenten und nebenberuflich tätiger Lehrer sind „Lernhilfeinstitute“ getreten ( etliche davon Franchise-Nehmer deutscher Nachhilfe-Firmen), die vor „kritischen Phasen“ im Schuljahr neuerdings sogar mit teurer Primetime-Fernsehwerbung ihre Dienste anbieten.

In den ostasiatischen Länder hat das Nachhilfewesen hingegen ein Ausmaß und eine öffentliche Sichtbarkeit erreicht, dass von Schattenexistenz keine Rede sein kann sondern dafür eher der Begriff „Parallel-Schulsystem“ angemessen erscheint. In Japan, Korea und Hongkong besuchen mehr als die Hälfte der Schüler Nachhilfeeinrichtungen, und zwar nicht –wie in Österreich - Schüler, die schulischen Misserfolg vermeiden wollen, sondern Schüler mit gutem Schulerfolg, die noch „besser“ werden wollen um ihre Chancen zu erhöhen, in eine „gute“ Oberstufe oder in eine „gute“ Universität aufgenommen zu werden. Die Aktien der riesigen japanischen Nachhilfefirmen werden an der Börse gehandelt. Dem öffentlichen Schulsystem werden erfolgreiche Lehrer abgeworben und zu „Stars“ aufgebaut, deren Lektionen über Satellitenfernsehen in regionalen Studienzentren ausgestrahlt werden oder als DVD zu haben sind; die Institute werben öffentlich mit der Zahl „ihrer“ Nachhilfeschüler, die in Eliteuniversitäten aufgenommen werden.

Die Experten der UNESCO-Konferenz identifizierten zwei Hauptprobleme die weltweit in nationalen Varianten und in unterschiedlicher Ausprägung auftreten. Zum einen besteht die Gefahr, dass sich die öffentlichen Schulen von ihrer Verantwortung für den Lernfortschritt aller ihrer Schüler indirekt verabschieden und die Sorge um Schüler mit Lernschwächen „privatisieren“. Die Unterlassung von Individualisierung bzw. ihre Auslagerung an private Nachhilfeeinrichtungen und die weit verbreitete Fiktion der homogene Jahrgangsklasse führen zu wenig anregenden Unterrichtsroutinen und einer Entfremdung von Lehrern und Schülern. Befragungen von Nachhilfeschülern in verschiedenen Ländern brachten mit beunruhigender Häufigkeit die Tatsache zutage, dass sich Nachhilfeschüler von den Nachhilfelehrern als „Person“ mit individuellen Lernbedürfnissen wahrgenommen fühlen, von ihren regulären Klassenlehrern hingegen nicht.

„Lieber Gott hielf, ...

Als gravierendstes Problem wird jedoch die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit angesehen, die überall mit privater bezahlter Nachhilfe einhergeht. Für einkommensschwache Familien sind die mutmaßlich effektiveren Formen der Nachhilfe, nämlich Einzel- oder Kleingruppenunterricht, so gut wie unerschwinglich. Zudem tendieren österreichische Eltern die selber keine AHS besucht haben, dazu, ihre Kinder, wenn diese in der AHS-Unterstufe in Schwierigkeiten geraten, eher rasch aus der AHS zu nehmen und in die Hauptschule zu schicken, während Mittel- und Oberschichteltern in solchen Fällen das gesamte Instrumentarium der familiären Lernhilfe und der zugekauften Nachhilfe aktivieren. Wie in Ostasien vollzieht sich auch in Europa eine Funktionswandel des Nachhilfewesens: es geht vermehrt nicht mehr bloß um den Ausgleich von Lerndefiziten und die Verhinderung von schulischen Misserfolg sondern um die „Optimierung“ von Bildungschancen, um „competitive advantage“ in einem zunehmend von Konkurrenz und Selektion geprägten Bildungssystem. Eltern mit „kulturellem“ und „richtigem“ Kapital schicken ihre Kinder vermehrt auf (teure) Lernferien im In- und Ausland.

Hätte Bildungsministerin Schmied nicht die von ihrer Vorgängerin beschlossene Verschärfung der AHS-Auslese zurückgenommen, wäre die Nachfrage nach Nachhilfe in der dritten und vierten Volksschulklasse wahrscheinlich kräftig angestiegen. Und am Am oberen Ende der AHS zeigen sich alarmierende Anzeichen eines privaten „Marktes“ für (teure) Vorbereitungskurse für die Ausleseprüfungen vor dem Medizinstudium. – In Österreich gibt es zwei Entwicklungen, welche die Verlagerung des Nachhilfeproblems aus dem bildungspolitischen „Schatten“ in das bildungspolitische „Rampenlicht“ beschleunigen könnten. Angesichts der Ausweitung der Nachmittagsbetreuung ab dem kommenden Schuljahr wird man fragen müssen, wie diese schulische „Extrazeit“ für kompensatorische Bildungsmaßnahmen genutzt werden kann, und zwar sowohl für die „Hochbegabten“-Förderung als auch für die Förderung von leistungsschwachen Schülern.

... das ich durchkome“

Und schließlich gibt es da noch das Gusenbauer’sche Projekt „Nachhilfe-statt-Studiengebühren“. Es handelt sich dabei zwar noch um „work in progress“, aber es wird interessant sein zu erfahren, wie die Lehrerschaft jene Schüler auswählt, die in den Genuss der öffentlichen Gratis-Nachhilfe kommen sollen, wie die städtischen Studierenden zu den Nachhilfeschülern im Seewinkel und im Pitztal kommen und wie das (zukünftige) Verhältnis von privat zu bezahlender Nachhilfe und öffentlicher Gratisnachhilfe aussehen soll. Postscriptum: In manchen katholischen Wallfahrtskirchen liegen auf Tischen im hinteren Teil der Kirche Bücher auf, in welche Gläubige in Notlagen ihre Bitten um göttlichen Beistand hineinschreiben können. In einer prächtigen barocken Klosterkirche in Oberösterreich findet sich in so einem Buch in klobiger Schülerschrift die Eintragung „Lieber Gott hielf das ich bei der Nachprüfung durchkome“ (sic). Der aufklärerische Kaiser Joseph II. hatte für diese Art von Gottvertrauen wenig Verständnis. (Okay, er konnte sich Hauslehrer leisten.) Er ließ das der Kirche angeschlossene Kloster in eine Strafvollzugsanstalt umwandeln. (Karl Heinz Gruber/DER STANDARD-Printausgabe, 1./2. September 2007)