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Die Statue der allerseligsten Jungfrau in der Mariazeller Basilika: Für den Philosophen auf dem Apostolischen Stuhl ein unverzichtbarer "Platzhalter des Markenkerns seiner Firma"

Foto: REUTERS/Herwig Prammer
Eine protestantische Theologin wertete die Pilgerfahrt des Papstes in einem Kommentar der anderen als antiökumenischen Affront im Geist der Gegenreformation. Der agnostische "Heiligenexperte" Albert Sellner sieht die Dinge etwas nüchterner.

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Papst Benedikt gab am Mittwoch bei seiner Generalaudienz am Petersplatz eine kurze Lektion über den hl. Gregor von Nyssa. Er zitierte dessen unverdächtige Worte: "Unser Vorbild und unser Lehrer ist Jesus Christus."

Die Nennung des kappadozischen Kirchenvaters hat aber - wie oft bei Benedikt - einen Hintersinn. Gregor ist neben seinen Verdiensten um die Dreifaltigkeit der erste dogmatisch bedeutende Verfechter der immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens. In seinen allegorischen Homilien pflegte er auf den entflammten, aber nicht verbrannten Dornbusch hinzuweisen, Sinnbild der geistinduzierten Empfängnis; als einer der Ersten behauptete er, Maria habe ohne Wehen geboren und sei auch nach der Geburt Jungfrau geblieben.

In Anspielung auf die Schwester des Mose, die Prophetin Mirjam, die nach dem Zug durchs Rote Meer die Handtrommel schlug, predigte er Marias Vorzüge: "Wie das Tympanon, von dem man alle Feuchtigkeit entfernt hat, so dass es völlig trocken ist, einen lauten Ton gibt, so ist auch die Jungfräulichkeit, die keine lebensspendende Feuchtigkeit empfängt, berühmt und vielgepriesen."

Heerführerin

Gregor von Nyssas Lobesreden markieren den Beginn einer Karriere, die von der bescheidenen Rolle als jüdische Mutter eines gekreuzigten Staatsverbrechers zu den Ämtern der Himmelskönigin, der Heerführerin der Guten in der Apokalypse, die den Teufel überwindet, zur Lehensherrin ganzer Städte und Länder, und schließlich, durch den Willen seiner kaiserlichen Hoheit Ferdinand III., zur "Domina et Patrona Austriae" aufstieg. Mehrfach feierlich erneuert, hatte der Gefolgsschaftvertrag mit der allerseligsten Jungfrau auch nach dem Weggang der Habsburger im Volk eine Massenbasis. 1931 zählte man in der Republik Österreich immerhin 1478 marianische Männer- und Frauenkongregationen, davon allein in Wien über 500.

Die marianischen Traditionen der lateinischen Völkerschaften haben den Kardinal und Chefideologen Ratzinger gelegentlich befremdet. Er witterte hinter den zahllosen Marienerscheinungen in Italien und Lateinamerika die Sünde subversiver Selbstermächtigung - für Katholiken wesentlich schlimmer als Gruppensex. Wer eine Privatoffenbarung in Anspruch nimmt, der ist nicht weit davon entfernt, zu behaupten: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Auch die kirchentreue Volksfrömmigkeit hat ihre dunkle Seite. Bayern ist - und Österreich ist da ganz Nachbar - für Joseph Ratzinger Heimat. Aber wenn einer Anfang der 50er-Jahre aus dem Traunsteiner Priesterseminar ins Umland wanderte, konnte er sich als Jünger der Athene von den vorgeblich religiösen Festen und Bräuchen der Hintersassen schockiert fühlen, wäre er nicht durch die Philosophie zu gelassener Souveränität erzogen worden.

Emotionale Vernunft

Joseph Ratzingers ganz auf den Wahrheitsdiskurs ausgerichteter Verstand fühlt sich am wohlsten im theologisch-philosophischen Dialog. Er strahlt - je älter, desto deutlicher - eine auch für Agnostiker wahrnehmbare lichte Geistigkeit aus. Das ist nicht überall populär. Am wenigsten beim Mittelbau der Organisation, den Seelsorgern, den Sozialarbeitern und den Spendensammlern. Der alte Hader der Praktiker mit den Theoretikern ...

Benedikt wurde - im Gegensatz zu seinem polnischen Vorgänger - auch von seinen Bewunderern stets als "Christusmann" empfunden. In seinem Gesprächsbuch "Gott und die Welt" sagt er über sich: "Ich persönlich war zunächst sehr stark durch die strenge Christozentrik der liturgischen Bewegung bestimmt, die durch den Dialog mit den protestantischen Freunden noch verstärkt wurde." Derlei nimmt man ihm denn auch in traditionalistischen Kreisen übel. "Theologisch ist er fast ein Protestant", flüstern konservative Kirchenleute hinter vorgehaltener Hand. Und sie fragen kopfschüttelnd, was an seinem jüngsten Jesusbuch eigentlich katholisch sei. Hätte das nicht auch einer von der lutherischen Fakultät schreiben können? Zu Benedikts klug beratenen Antworten gehört die Wallfahrt nach Mariazell.

Benedikt weiß um seine eigenen Schwächen. Das Bad in der Menge musste er mühsam lernen. Freundlichen Umgang mit strunzdummen Prominenten hat er stets als gottgegebene Prüfung erlitten. Als Oberhaupt einer zumindest nominell milliardengroßen Gemeinde kann er nicht gestisch wie amtlich eine Religion der Professoren vertreten. "Es gibt eine Art Purismus", sagt er, "eine Rationalisierung, die ein wenig frieren machen kann ... Das Herz der Menschen setzt sich dieser Entwicklung entgegen und hält fest an der Mariologie." Und neben dem Durchstich zum Gefühlszentrum nicht nur der "einfachen Leute" ist die Mariologie - neben der sakramentalen Auffassung des Priestertums - der Platzhalter des "Markenkerns" seiner Firma.

Banner der Jungfrau

Nirgendwo besser als in Wien lässt sich das "in Stein gegossen" und in bunten Bildern verkörpert zeigen. Ein marianischer Reiseführer von 1963 (Hugo Pfundstein OSB) führt weit über 100 mehr oder weniger wundertätige "Heiligtümer" in den Kirchen, Durchgängen und Häusern der Stadt auf. Der Marienkult dient bis heute als zentrales Unterscheidungsmerkmal zum Protestantismus, nicht zuletzt durch dessen eigenes, puritanisch motiviertes, Verschulden. Österreich wurde unter dem Banner der Jungfrau rekatholisiert - mit politisch alles andere als korrekten, aber letztlich erfolgreichen Mitteln. Wie stark dadurch "seine Seele" geschädigt wurde, darüber kann man seit Friedrich Heer trefflich streiten.

Anders aber als in der (durch die borussischen Geschichtsschreiber wesentlich miterschaffenen) "deutschen Seele" fehlt in Österreich die narzistische Kränkung durch die "welsche Knute". Wenn einer dem anderen die Peitsche androhte, dann seit Karl V. der kaiserliche Hof dem Papst und nicht umgekehrt. Joseph II. sprang mit Pius VI. bei dessen Wienbesuch 1782 um wie mit einem lästigen Bittsteller. Ohne die Präsenz der österreichischen Bajonette wäre zwischen 1815 und 1848 der Kirchenstaat mehrfach von Revolutionären überwältigt worden. Metternich installierte 1830 gegen die vorherrschende Stimmung von Klerus und Volk von Rom einen Gregor XIV., der - würde er heute noch leben - wahrscheinlich Joseph Ratzinger in den finstersten Kerker der Inquisition hätte werfen lassen.

Auch das Vorrecht des Vetos gegen die Wahl ungenehmer Päpste wurde von den Habsburgern unbedenklich genutzt. Noch 1903 verlas Kardinal Puzyna von Krakau im Namen Franz Josephs das Veto gegen die drohende Wahl des Kardinalds Rampolla. (Der dann als Pius X. gewählte Giuseppe Sarto schaffte undankbarweise sofort das monarchische Ausschließungsrecht durch Dekret ab.)

Strategische Klugheit

Je mehr sich Benedikt der modernen kritischen Theologie nähert, desto mehr muss er als Papst das Besondere, das Unverwechselbare der eigenen Adresse hervorheben. Großorganisationen können ohne solche Leitungsprinzipien nicht bestehen - sonst zerfallen sie. Im täglichen politischen Geschäft sieht man diese Führungslogik bei allen erfolgreichen Volksparteien.

Der Appell an das marianische Österreich ist strategisch klug, weil es neben der obrigkeitlichen Komponente durchaus eine jahrzehntelange praktische Marienfrömmigkeit gab. Und die Legitimität einer zumindest historisch evozierbaren Massenverankerung ist für das katholische Organisationsprinzip unverzichtbar.

Nicht ganz im Ernst gesprochen: Österreich verdankt seine Nachkriegsfreiheit den millionenfachen Rosenkranzgebeten des gläubigen Volkes. 1947 gründete der Franziskanerpater Petrus Pavlicek den Rosenkranz-Sühnekreuzzug. Die Mitglieder verpflichteten sich zum täglichen Rosenkranz "für den Frieden in der Welt".1948 waren es 10.000, ein Jahr später 100.000 und aus Deutschland schlossen sich weitere Zehntausende an. Das Gebet wurde Anfang der 50er erweitert um die Bitte: "Für die Freiheit Österreichs". Da waren es bald 400.000. Am Heldenplatz lauschte 1952 eine über hunderttausendköpfige Volksmenge (es sollen mehr Menschen als beim Auftritt des Führers gewesen sein) der durch Lautsprecher übertragenen Ansprache Papst Pius XII. Er empfahl "mit der ganzen Inbrunst unseres Vaterherzens" den Gläubigen, ihr Geschick "der Alma Mater Austriae, die sich euch im Heiligtum von Mariazell schon oft in drangvoller Lage als Schutz und Hilfe erwiesen hat" anzuvertrauen: "Dann dürft ihr zuversichtlich hoffen."

Die Rosenkranzbewegung - einer ihrer Organisatoren war inzwischen der spätere Kardinal König - wuchs bis 1955 auf über eine halbe Million Teilnehmer. Maria erhörte bekanntlich die hartnäckigen Gebete und schenkte Österreich laut Bundeskanzler Raab den Staatsvertrag: "Wenn nicht soviel gebetet worden wäre, so viele Hände in Österreich sich zum Gebet gefaltet hätten, so hätten wir es wohl nicht geschafft." (Albert Sellner, DER STANDARD Printausgabe, 8./9.9.2007)