Ein Beispiel für kognitive Dissonanz lieferten vor kurzem die Medienberichte zu zwei Ereignissen im Zusammenhang mit Österreichs Vergangenheitsbewältigung: das jüngst vom Simon Wiesenthal Center durchgeführte Ranking der weltweiten Strafverfolgung von NS-Verbrechern und der Israelbesuch des Kanzlers.

Zum einen: Wenig Überraschung brachte die Erkenntnis, dass Österreich in seiner strafrechtlichen Verfolgung der mit Adresse und Sozialversicherungsnummer bekannten Straftäter nicht aktiv wurde und wird. Der schlechte Platz im Ranking ist notorisch.

Laut Efraim Zuroff vom Jerusalemer Büro des Wiesenthal Centers liege der Grund des „bodenlosen Versagens“ an mangelndem politischem Willen. Diese Analyse ist richtig, aber deren Geschichte nun wirklich nicht neu. Von der SPÖ in diesem Zusammenhang in Auftrag gegebene Historikerberichte und Publikationen vermittelten ein Sittengemälde der politischen Praxis.

Auch die im Dokumentationszentrum des Österreichischen Widerstands ansässige Forschungsstelle Nachkriegsjustiz leistet aufschlussreiche Arbeit. Nicht zuletzt hatte Simon Wiesenthal selbst die Ignoranz der politisch Verantwortlichen beschrieben. Die jüngsten medialen Rügen für Österreich zielten darauf ab, so Efraim Zuroff, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Thema zu lenken.

In dieser völligen Verkennung populistischer Regulative in Österreich provozierte dieser Zuruf einer renommierten Organisation in der medialen Verkürzung Unverständnis. Als Antwort erfolgte umgehend der Reflex, „endlich Schluss machen“. Es stellt sich die Frage, ob nicht gut dotierte Forschung, spannende Zeitgeschichteprojekte in der Erwachsenenbildung und ein von unabhängigen Historikern konzipiertes Haus der Geschichte das Lebenswerk Simon Wiesenthals besser fortsetzen würden als die Forderung nach Anklage gegen einzelne Greise.

Die „Operation Last Chance“ ist hierzulande bereits in den siebziger Jahren still zu Ende gegangen. Da nützt auch die hastige Ausschreibung von Belohnungen für Hinweise auf den Aufenthaltsort zweier Mörder nichts. Die Optik wird nicht mehr besser. Auch das sollte die Republik in den Geschichtekatalog aufnehmen. Frische Zuversicht verströmten im Gegensatz dazu die Berichte über den in Israel gastierenden Kanzler. Alfred Gusenbauer verwies auf das „normalisierte Verhältnis“ zwischen der Republik und Israel und setzte somit auch international ein Zeichen dafür, dass Österreich wieder zu den „Guten“ gehört.

So weit so gut, doch dann wurde es wieder schwierig für die Rezipienten, denn Gusenbauer erzählte, dass man heute in Österreich imstande sei zu trauern und Verantwortung für die dunklen Seiten der Geschichte übernehme. Große Wort, die leider auf einer krassen Fehleinschätzung der öffentlichen Meinung beruhen. Vielmehr ist die Unfähigkeit zu trauern zu beklagen. Des Kanzlers Befund in Israel ist Ausdruck von Wunschdenken, das Ranking Realität.

Grundsätzlich gilt: Im Gewimmel von Studien, Politikerreden, Empörungen und Missverständnissen bleiben Einsicht und Interesse für die Thematik meist auf der Strecke. Je plakativer Vergangenheitspolitik betrieben wird, desto eher provoziert sie Stereotype und Verdrängung.

Vielleicht sollten manche, Zeitgeschichte-Experten ihr Ohr an die rechten Schwellen legen. Denn an den mentalen Stammtischen der Republik erklärt man wieder die Welt. Und vielleicht erfahren sie dann auch, welchen Schaden sie anrichten. Zeitgeschichte und ihre Deutung bedürfen einer leisen Stimme, dann wird sie morgen wahrgenommen.

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Die Autorin ist Historikerin und wissenschaftliche Leiterin der österreichischen Gesellschaft für politische Bildung. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.9.2007)