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80 Prozent haben mit größter Sicherheit keinen Bandscheibenvorfall

"80 Prozent aller Menschen haben irgend wann einmal in ihrem Leben Kreuzschmerzen, wahrscheinlich sind es sogar 100 Prozent," so der Neurochirurg Manfred Mühlbauer über die Qualen, die häufig von der Wirbelsäule ausgehen und meistens eine ganz alltäglich "Abnützung" als Ursache haben.

Ein normaler Prozess

Eine Bandscheibe ernährt sich durch Diffusion und ist normalerweise stark feuchtigkeitshältig und prall elastisch. Durch Abnützung verliert sie an Höhe und wölbt sich nach vor. Dadurch verliert sie die Fähigkeit zwei Wirbel prallelastisch auf Distanz zu halten. Schmerz entsteht. "Die Wirbel beginnen sich irregulär zu bewegen. Das reizt lokale Schmerzstrukturen und führt zu Kreuzschmerzen", so der Experte.

Keine einheitlichen Diagnoserichtlinien

Das habe aber noch nichts mit einem Bandscheibenvorfall zu tun, erklärt er weiter. Trotzdem könne der Befund des Radiologen diesen schon bescheinigen: "Das Dilemma dabei ist, dass es keine klaren Richtlinien für einen schriftlichen Röntgenbefund gibt. Unser Job ist es dann einem Drittel der Menschen zu erklären, dass Sie gar keinen 'echten' Bandscheibenvorfall haben."

Fehldiagnose

"Viele kommen wegen Kreuzschmerzen und haben mit größter Sicherheit keinen Bandscheibenvorfall." Aber irgendwann, bekämen seiner Erfahrung nach trotzdem viele die Diagnose "Discusprolaps" umgehängt: "Und dann nehmen die Dinge ihren unerfreulichen Lauf: Dann kriegen sie CT-gesteuerte Infiltrationen, semiinvasive Verfahren, die man gar nicht braucht, da ja meistens eine Abnützung und kein Prolaps (Bandscheibenvorfall) vorliegt," erklärt der Mediziner.

Ausstrahlender Schmerz ins Bein

Der erste Weg führt zum Praktischen Arzt. Dieser stellt fest, ob es sich um ein Kreuzschmerzproblem oder um einen Nervenwurzelschmerz handelt. Als Nervenwurzelschmerz versteht man einen ausstrahlenden Beinschmerz, etwa den klassische "Ischias". Hier besteht der Verdacht eines Bandscheibenvorfalls.

Bei Kreuzschmerzen hingegen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Ursache ein Bandscheibenvorfall ist. Kreuzschmerzen können durch Veränderungen an den Wirbelgelenken verursacht sein, Arthrosen oder vertrocknete insuffiziente Bandscheiben. "Diese Patienten brauchen konsequente Physiotherapie. Damit werden sie nicht immer 100 prozentig schmerzfrei, aber sie hilft."

Häufige Verwechslung - Vorwölbung

Nur wenn die Hülle einer Bandscheibe reißt und der Inhalt der Bandscheibe massiv vorquillt, spricht man von einem klassischen Bandscheibenvorfall. Der große Unterschied: Beim Abnützungsprozess hat man zuwenig Bandscheibe, beim Bandscheibenvorfall quillt zuviel Bandscheibe hervor. "Beides macht eine gänzlich unterschiedliche Symptomatik und wird trotzdem von Medizinern immer wieder vermischt."

Bandscheibenvorfall

Handelt es ich um einen Nervenwurzelschmerz der ins Bein ausstrahlt wird unterschieden: Gibt es schwere neurologische Ausfälle, wie massives Taubheitsgefühl oder Lähmungen, dann muss rasch operiert werden. Ist das nicht der Fall, bleibt genug Zeit für die konservative Therapie.

Schmerz lässt beim Gehen nach

"Wenn einer sagt: im Liegen tut’s mir weh, wenn ich ein bisschen herumgehe, wird’s besser", dann weiß der Bandscheibenexperte schon, dass nicht der Druck auf die Nerven schuld ist. Meistens hat hier eine Bandscheibe nur im Fasernring einen kleinen Einriss, der zu einer Enzym-Reaktion führt - ein Heilungsprozess der Natur, der aber wie bei einer Entzündung eine Nervenwurzel reizen kann. "Wenn ich das höre, weiß ich genau, den brauche ich nicht zu operieren. Das wird drei Wochen dauern. Dann ist dieser Einriss geheilt und der Spuk ist vorbei." Hier helfen schmerz - und entzündungshemmende Medikamente, wie zum Beispiel Voltaren.

Schmerz wird im Liegen besser

Patienten, die im Gehen ein Stechen oder Taubheitsgefühl wahrnehmen, das sich im Liegen bessert, haben allerdings weniger positive Aussichten: "Diese Patienten müssen sehr rasch zu einer Magnetresonanz Tomographie, weil der Verdacht auf einen großen Bandscheibenvorfall besteht, wo eine Nervenwurzel tatsächlich komprimiert wird", erklärt Mühlbauer. Bestätigt sich der Verdacht, besteht trotzdem wenig Grund zur Sorge: "Die Bandscheiben-Operation ist ja nicht a priori böse. Das Risikoprofil ist wunderbar und liegt für Nervenwurzelverletzungen nur bei 0,1 Prozent."

Die Bandscheibenoperation

Ziel der Bandscheibenoperation ist es, das in den Wirbelkanal vorgedrungene Stück Bandscheibe zu entfernen und die komprimierte Nervenwurzel zu befreien. Durch die Bruchpforte werden im Faserring gegebenenfalls noch lockere Reste des Gallertkerns aus dem Inneren der Bandscheibe entfernt, um das Risiko eines neuerlichen Bandscheibenvorfalles (Rezidivprolaps) zu verringern.

Mikrochirurgische Discusextraktion

Der Goldstandard ist die Mikrochirurgische Discusextraktion mit einem Operationsmikroskop. Neurochirurg Manfred Mühlbauer: "Mit einem Schnitt von circa drei Zentimeter ist das eine atraumatische, minimale invasive Operationsmethode." Der Vorteil gegenüber der alten, herkömmlichen offenen Bandscheibenoperation ist, das die Biomechanik der Wirbelsäule nicht mehr zerstört wird. Die Operationsdauer ist vielleicht eine Stunde. Der Schnitt ist circa drei Zentimeter groß. Der Patient darf in aller Regel am nächsten Tag aufstehen.

Schwachstelle bleibt

Die biomechanische Schwachstelle der Wirbelsäule bleibt, und viele Patienten, die bandscheibenoperiert sind brauchen deshalb danach eine Physiotherapie gegen den bestehenden Kreuzschmerz. Der ziehende Beinschmerz verschwindet jedoch in über 90 Prozent der Fälle. Bei Lähmungen werden mit der Operation die Voraussetzungen geschaffen, dass sich der Nerv, mit Hilfe von physikalischer Therapien meist erholen kann.

Letzter Ausweg Operation

"Ich wehre mich gegen den Algorithmus, dass prinzipiell jeder Bandscheibenvorfall bevor er dem Chirurgen gezeigt wird, konservativ therapiert werden muss," bringt der Neurochirurg seine Einstellung auf den Punkt.

Die Einschätzung welche Behandlungsmethode im Ernstfall die beste sei, nennt er ärztliche Kunst: "Wie viele Patienten hat der Arzt, die Ärztin gesehen? Wichtig ist es, dass es nicht heißt, die Operation steht nur an der Spitze dieser Pyramide, sondern sie hat ihren fixen Platz. Genauso wie die konservative Therapie ihren fixen Platz hat. Und es gibt natürlich einen Graubereich, wo sich das ganze überschneidet." (Andrea Niemann, derStandard.at)