Beim Thema Kindesmissbrauch gibt es in den seltensten Fällen eine realistische Beurteilung der Lage. Verständlich, denn die Vorstellung, das eigene Kind könnte von einem "Freigänger" in der Schule vergewaltigt werden, ist grauenhaft. Und wenn der Verdacht im Raum steht, dass genau so etwas passiert ist, verlangt die Bevölkerung von der Politik ebenso verständlicherweise eine Reaktion.

Diese ist auch diesmal erfolgt. Herr Westenthaler vom BZÖ sieht den Königsweg neuerlich in höheren Strafrahmen. "So weit es geht, lebenslang weggesperrt" müssten Sextäter werden, forderte er. Die Justizministerin verspricht sich von elektronischer Überwachung und mehr Gutachten mehr Sicherheit.

Gegen "automatisch lebenslang"

Bei psychisch schwerst gestörten Tätern ist es für die Sicherheit der Gesellschaft selbstverständlich die beste Variante, sie auf unbestimmte Zeit in eine Anstalt einzuweisen. Was ja passiert. Nur: Automatisch "lebenslang" für bestimmte Delikte kann es ja nicht sein. Noch dazu, wo alle internationalen Studien zeigen, dass von behandelten und betreuten Sexualstraftätern rund fünf Prozent rückfällig werden. Diese Zahl kann man auf zwei Arten interpretieren: Fünf Prozent werden rückfällig - also lassen wir keinen mehr heraus. Oder: 95 Prozent begehen kein Delikt mehr, haben also eine zweite Chance verdient.

Dass die Emotionen besonders hochgehen, wenn Kinder Opfer werden, ist, wie erwähnt, verständlich. Nur: die Angehörigen eines Menschen, der von einem rückfälligen Alkolenker über den Haufen gefahren wird, wird das kaum trösten. In solchen Fällen stellt sich aber kein Politiker vor die Presse und fordert lebenslangen Führerscheinentzug nach dem ersten Rausch am Steuer. Zu Recht. Denn so schmerzhaft es bei persönlicher Betroffenheit ist: Trotz des Restrisikos ist die Chance auf eine zweite Chance zu gewähren. (Michael Möseneder, DER STANDARD Printausgabe, 19.9.2007)