"Meine liebe Republik" heißt der jüngste Film Elisabeth Scharangs, in dem sie anhand des berührenden Schicksals von Friedrich Zawrel den Fall Gross neu aufrollt. Zawrel begegnete dem Psychiater Heinrich Gross zweimal: zuerst als Kind in der Euthanasieanstalt Spiegelgrund und dann viele Jahre später noch einmal vor Gericht als Angeklagter in einem Diebstahlprozess. Gross war damals "sein" Gutachter - das makabre Dejavu gab für Zawrel schließlich den Anstoß, alles zu unternehmen, um die Wahrheit über Gross ans Licht zu bringen.

Zentrales Thema des Films ist Frage der Schuld: So wie die Gräuel in der Zeit des Nationalsozialismus ohne die vielen Mitläufer und Wegschauer nicht möglich gewesen wären, ist auch die Karriere des Stargutachters Gross nur dadurch erklärbar, dass manche ihn unterstützt, vor allem aber - wie der Film dokumentiert - so viele den Blick abgewendet oder zumindest "nicht so genau hingeschaut" haben. Die Suche nach "dem Schuldigen", das Bemühen, eine Person namhaft zu machen, die Gross nachweislich gedeckt und seine Untaten vertuscht hat, sei erfolglos geblieben, erklärte Scharang bei der Präsentation des Films in Innsbruck.

Ermutigendes Beispiel

Wir lernen: Schuld ist ein komplexes Phänomen. Der Psychoanalytiker Hierdeis schreibt in diesem Zusammenhang, dass "die wichtigste Wahrheit unseres Lebens jene der geteilten Schuld ist", ohne die es keine Aussöhnung geben kann - weder mit den Tätern, noch mit sich selbst. Jeder von uns ist in gewisser Weise und in jeweils unterschiedlicher Dimension Opfer und Täter zugleich.

Wer von unserer, der "Gnade der späten Geburt" teilhaftig gewordenen Generation könnte denn dafür garantieren, dass er "damals" Mitglied der Weißen Rose und nicht der SS gewesen wäre? Selbst Friedrich Zawrel berichtet darüber, dass er sich als Kind sehnlichst gewünscht hatte, bei der Hitlerjugend zu sein, was ihm, dem "erbbiologisch Minderwertigen", allerdings verwehrt worden war.

Wenn aber alle auch Täter sind, erübrigt es sich dann nicht, individuelle Schuld aufzuzeigen und zu benennen? Hätte man also im Fall Gross nicht Vergangenheit besser Vergangenheit sein lassen? Natürlich nicht - und zwar nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit:

In der Beratung von Menschen und Organisationen zeigt sich mir immer wieder, dass alles, was war, Einfluss hat auf das, was ist und sein wird. Nicht selten können Probleme erst dann gelöst werden, wenn man die Zusammenhänge versteht und die Energie, die zur Bewahrung von Geheimnissen und zur Aufrechterhaltung von Tabus nötig ist, freisetzt. Dies kann freilich nur in einer Atmosphäre gelingen, in der man zwar um Wahrheit und Gerechtigkeit bemüht ist, sich dabei aber - im Wissen um die "geteilte Schuld" - jeglicher Selbstgerechtigkeit und Besserwisserei enthält.

Letztlich ist es nicht nur für die Opfer wichtig, dass ihr Leid benannt und gesehen wird. Auch die Täter leiden unter der isolierenden Wirkung ihrer Schuld. Polizisten berichten immer wieder, dass Täter, die gefasst werden, "erleichtert" sind.

Der Fall Gross und die Biografie Friedrich Zawrels machen deutlich, dass es oft nur weniger "Gerechter" bedarf, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn im Prinzip ist es lediglich dem Mut des damaligen Häftlings Zawrel und dem Engagement von Werner Vogt und ein paar Journalisten zu verdanken, dass das Unrecht des Heinrich Gross nicht dem Vergessen anheimfiel. Zu einem strafgerichtlichen Urteil ist es zwar nicht mehr gekommen - dazu war das opportunistische Netzwerk zu stark - aber immerhin gibt es ein zivilgerichtliches Erkenntnis, dass Gross an der Tötung mehrerer hundert, angeblich geisteskranker, Kinder mitbeteiligt war.

Zawrel hat es sich nicht in der Opferrolle bequem gemacht, sondern ist aktiv geworden und - trotz Drohungen - auch geblieben. Dies könnte gerade in einer Situation, in der sich immer mehr Menschen als Opfer von Veränderungsprozessen wahrnehmen, die sie nicht beeinflussen zu können glauben, ermutigend wirken. "Man kann halt nichts machen" lautet die selbstberuhigende Resignationsformel. Doch, man kann ...

*****

Hermann Major ist Theologe und arbeitet als Supervisor in Innsbruck.

*****

Ein ausführliches Interview mit Friedrich Zawrel lesen Sie in der Samstag-Ausgabe. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.9.2007)