"Wo der Mensch sich nicht relativieren oder eingrenzen lässt, dort verfehlt er sich immer am Leben: zuerst Herodes, der die Kinder von Bethlehem umbringen lässt, dann u.a. Hitler und Stalin, die Millionen Menschen vernichten ließen, und heute, in unserer Zeit, werden ungeborene Kinder millionenfach umgebracht." So der Kölner Kardinal Joachim Meisner in einer Predigt.

Der Satz erregte Aufsehen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sprach von einer Beleidigung von Millionen von Holocaust-Opfern und von Frauen, die sich in einer Notlage entscheiden müssten. Der Kardinal sagte daraufhin, er sei missverstanden worden und ließ bei der Drucklegung seiner Predigt den Namen Hitler weg. Es wird unter Ihnen wenige geben, die Meisners historische Reihenbildung billigen würden. Aber warum eigentlich? Weil es skandalös ist, die Ermordung von Millionen von Menschen gleichzusetzen mit Abtreibungen? Und damit entweder Frauen, die abgetrieben haben, mit SS-Mördern gleichzusetzen, Ärzte, die in Kliniken Abtreibungen durchführen, auf dieselbe moralische Stufe zu stellen, auf der ein Mengele steht, oder, umgekehrt, das Leid der in Auschwitz Ermordeten auf dieselbe Stufe mit der Tötung eines Embryos zu stellen? Wenn Sie über Meisners Satz empört sind - sind Sie dann über diesen Vergleich empört? Oder sind Sie darüber empört, dass Meisner katholisch ist?

Für einen gläubigen Katholiken beginnt das menschliche Leben mit der Empfängnis, d.h. mit der Verbindung von Spermatozoon und Eizelle. Für einen gläubigen Katholiken gibt es hinsichtlich der Verwerflichkeit des Tuns keinen Unterschied zwischen der Tötung eines Embryos, eines Kindes oder eines Erwachsenen. Wo hundertfach, tausendfach, millionenfach abgetrieben wird, wird dieser Auffassung nach Massenmord begangen, und es gibt überhaupt keinen Grund, diesen Massenmord nicht mit irgendeinem anderen Massenmord in der Geschichte zu vergleichen, auch mit dem Holocaust. Wenn man gläubiger Katholik ist. An dem Satz des Kardinals ist gar nichts skandalös. Er hat nur seinen religiösen Überzeugungen Ausdruck verliehen, so, wie es seines Amtes ist. Man kann natürlich seine religiösen Überzeugungen skandalös finden. Aber was dann? Oder: Muss man eine solche Ansicht respektieren, weil sie Ausdruck einer religiösen Überzeugung ist? Das heißt, ändert sich etwas an der Haltung, die man zu einer solchen Meinung einnehmen kann, sollte oder muss, wenn es sich bei ihr nicht bloß um eine individuelle Ansicht, sondern um den Ausdruck eines Bekenntnisses handelt?

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Was verstehe ich unter Religiosität? Ich brauche natürlich einen weiten Begriff, der nicht nur Christen, Juden und Moslems, sondern auch Zeugen Jehovas und Animisten einschließt, oder sagen wir: nicht von vornherein ausschließt. Ich denke, dieser Begriff ist tauglich: Religiosität besteht in der Überzeugung, dass die Welt nicht aus sich heraus verstanden werden kann.

Religiös ist derjenige, der meint, was immer wir auf diesem oder jenem Wege noch über die Welt herausbekommen können: das, was die Welt im Innersten zusammenhält, das Geheimnis der Welt, ihr Sinn - also irgendwie: das Eigentliche wird es nicht sein. Und: auf dieses Eigentliche kommt es an. Denn wer sagt, die Wissenschaften könnten auf alle diese Fragen keine Antwort geben, aber er empfinde das auch keineswegs als Mangel, ist deutlich nicht religiös. Religiös ist derjenige, der die Welt aufteilt in das, was unserem Wissenwollen zugänglich und gerade darum nicht das Wesentliche ist, und das andere, Wesentliche, zu dem es einen anderen Zugang geben muss.

Die Öffentlichkeit einer säkularen Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Vorstellung eines solchen privilegierten Zugangs zur Wahrheit nicht kennt. Die säkulare Gesellschaft ist keine profane Theokratie: die "wissenschaftliche Weltanschauung" (wenn es denn so was überhaupt gibt, woran ich zweifle) tritt in ihr nicht an die Stelle einer Religion, auch wird der Religiöse auf Grund seiner Ansichten von sich selbst, seiner Idee, einen privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, nicht für wahnsinnig gehalten oder sonst wie diskriminiert. Damit kümmert sich eine säkulare Gesellschaft um genau das nicht, was einem religiösen Menschen - wenn er es ernst meint - das Wichtigste sein muss. Für einen religiösen Menschen ist - eigentlich - eine säkulare Gesellschaft eine Gesellschaft des Irrtums. Diese Ansicht teilt die Geistlichkeit Teherans mit der (orthodoxen) Geistlichkeit Jerusalems und der Geistlichkeit Roms. Diese säkulare Gesellschaft zu bekämpfen ist ein klares Ziel islamistischer Gruppen überall in der Welt, sie in Israel zu bekämpfen Ziel eines Teils des dortigen politischen Spektrums, und sie weltweit zu bekämpfen war das erklärte Ziel des Papstes Johanns Paul II. Ich sage nicht: Sie zu bekämpfen ist das Ziel jedes religiös empfindenden Menschen, und es ist auch nicht Aufgabe eines nicht-religiösen Menschen, wie der Vortragende einer ist, zu definieren, was ernstliche Religiosität sei und was nicht. Festgehalten werden muss aber doch, dass eine gewisse Spannung besteht zwischen einer Gesellschaft, zu deren Öffentlichkeitsverfassung gehört, dass es keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit gibt, und Menschen, deren Leben von der Vorstellung erfüllt ist, es gebe dergleichen und sie seien im Besitze dieses Zugangs.

Wo nun liegt das Problem des Respekts? Nun, es liegt in dem Umstand begründet, dass es Viele gibt - vor allem Religiöse -, die der Ansicht sind, die säkulare Gesellschaft brauche das religiöse Element, weil nur darin etwas zu finden sei, was jede Gesellschaft dringend nötig habe, die säkulare Gesellschaft aber aus sich heraus nicht produzieren könne. Auf Nachfrage, was das sei, bekommt man zu hören: "Sinn" oder "verbindliche Werte" oder "Orientierung". Ich weise darauf hin, dass hier etwas wiederkehrt, das mit der Grundstruktur von Religiosität zu tun hat - um es mit dem Titel eines James-Bond-Films zu sagen: Die Welt ist nicht genug. Aber wie dem auch sei. Wenn es zuträfe, dass die säkulare Gesellschaft nicht wirklich lebensfähig wäre ohne Religiosität in ihr, folgte daraus, dass der Religiosität tatsächlich - und zunächst einmal ohne Ansehen ihres jeweiligen Aussehens - Respekt entgegengebracht werden müsste, denn man sollte nicht das missachten, worauf man angewiesen ist. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, dass eine säkulare Gesellschaft aus sich heraus keine Antworten auf Fragen wie die nach dem Sinn des Lebens - oder sagen wir es mit Douglas Adams: "life, the universe and everything" - zu bieten hat - das ist selbstverständlich so -, sondern ob dieser Mangel einer ist, der dringend kompensiert werden muss. Man kann sagen, dass, wer einen Gott brauche, eben sehen müsse, wo er einen herbekomme, und das sei ausschließlich seine Sache, oder man kann sagen, dass Menschen nicht gut leben könnten ohne transzendentale Orientierungen, und es eine Gemeinschaftsaufgabe sei, eine Kultur zu pflegen, in der solche Orientierungen - oder gar eine bestimmte Sorte solcher Orientierungen - geboten werden. Nur in letzterem Falle kann man sinnvollerweise davon sprechen, dass Religiosität - anders als zwangsneurotisches Verhalten, das auch erlaubt ist - respektiert werden müsse.

Die Vorstellung, die säkulare Gesellschaft bedürfe der Kompensation ihrer Sinndefizite durch Religiosität, ist einfach eine falsche Beschreibung der Sachlage. Nur in der theokratischen verfassten Gesellschaft wird Sinn verordnet - und nur an dieser Verordnung mangelt es der säkularen Gesellschaft. Aber dieser Mangel ist ihre Würde. Und es ist dieser Mangel, der verbürgt, dass jeder glauben kann, was er will - und, vor allem, dass er auch keinen Glauben heucheln muss, wenn er an gar nichts glaubt.

Der Respekt, den die säkulare Gesellschaft dem Religiösen entgegenbringt, ist ebenderselbe, den sie dem Nichtreligiösen entgegenbringt. Es ist der Respekt vor seinem Privatleben. Er besteht in der berühmten Maxime Friedrichs II. von Preußen, es möge jeder nach seiner eigenen Façon selig werden, oder der von Thomas Jefferson, dass es ihn nichts angehe, ob sein Nachbar an einen, zwei oder gar keinen Gott glaube - das tue ihm nicht weh und mache ihn nicht ärmer.

Ich achte Frömmigkeit, Religiosität, Theologie nicht bloß darum, weil sie vorhanden sind. Ich respektiere keine geistigen Gehalte, die für mich bedeutungslos sind oder die ich für Unfug halte - interessanten Unfug vielleicht, aber eben Unfug. Ich respektiere auch nicht, wenn sich jemand ohne Not das Leben schwer macht. Und doch spielen diese Faktoren eine Rolle beim Respekt. Meinerseits ist dieser Respekt von der Ansicht geleitet, dass wir, um Christoph Martin Wieland zu zitieren, "nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in die Welt sehen können", und das Leben schwer genug ist, als dass man es einfach leicht nehmen könnte.

Auf der einen Seite bedeutet Säkularität als Möglichkeit, sich nach eigenem gusto mit Sinnangeboten versorgen zu können (nach eigener Façon selig zu werden), auch den Schutz vor religiöser Zwangsvergemeinschaftung. Auf der anderen Seite bedeutet Säkularität eben nicht nur die vielzitierte Gewissensfreiheit, sondern auch Nicht-Einmischung in die Expressionsformen von Religiosität. Letzteres in Form eines Bürgerrechts, ersteres in Form der Einhaltung bestimmter Gesetze.

Wir haben nun eine sehr kontrovers geführte Debatte erlebt, in der es um die Grenzen der Expressionsfreiheit von Religiosität ging: die so genannte Kopftuchdebatte. Klar, dass Bürger des säkularen Staates auch in ihrer Kleidung zum Ausdruck bringen können müssen, welchem religiösen Bekenntnis sie angehören, wenn ihnen der Sinn danach steht. Klar, dass bei Bestehen einer Schulpflicht, der säkulare Staat konfessionsfreie Schulen anzubieten hat, und dass zu diesem Angebot die Garantie gehört, dass hier Religion möglicherweise in der einen oder anderen Form als Lehrfach angeboten wird, dass es aber keinerlei religiöse Beeinflussung geben soll. Darum, sagten manche, dürften Lehrerinnen, die sich zum Islam bekennen, kein dieses Bekenntnis offensiv demonstrierendes Kleidungsstück tragen. Ein solches Verbot, so andere, verstoße gegen die Freiheit der Religionsausübung und diskriminiere gläubige Muslime, weil es denen, die sich einer bestimmten Tracht verpflichtet fühlten, bestimmte Berufe versagte.

Der säkulare Staat hat sich nicht darum zu kümmern, was eine Kleidung für den oder die Religöse(n) "bedeutet". Wie will er das auch tun? Es mag sein, dass jemand den Schleier trägt, weil sie offensiv ihre Überzeugung zur Schau stellen und signalisieren will, dass sie sich eine islamisch-fromme Gesellschaft wünscht, in der alle Frauen den Schleier tragen. Es mag sein, dass jemand den Schleier trägt, weil sie einfach den Geboten folgt, die sie für sich als verbindlich bestimmt hat. Wer will das wissen? Der säkulare Staat hat sich darum nicht zu kümmern, er darf es gar nicht wissen wollen. Wohl darf und muss er über die weltanschauliche Neutralität seiner öffentlichen Schulen wachen, aber das tut er, indem er über die gelehrten Inhalte wacht und darüber, wie seine Lehrerinnen und Lehrer sie darbieten. Findet dort religiöse Indoktrination statt, kann er Lehrer entlassen und in hoffnungslosen Fällen Berufsverbote aussprechen.

Meine Toleranz gegenüber einer religiös bestimmten Tracht hat nichts damit zu tun, dass ich etwa die Vorstellungen über die Reinheit oder Sündigkeit des menschlichen Körpers, die sie oder er hat, achte, sondern ich respektiere ihren oder seinen Lebensentwurf. Solange sie die Spielregeln der säkularen Gesellschaft respektieren und damit ihre Tochter nicht über das Eltern allgemein zuzubilligende Maß an Intoleranz hinaus schikanieren.

Kopftücher haben für die Schulbehörde Modefragen u sein. Symbole werden erst durch Handlungen und geeignete Kontexte zu Symbolen. Darin besteht die Auffassung, die für die Umgangsformen einer säkularen Gesellschaft bestimmend ist: dass der Kontext und die Kommunikation den Sinn stiften. Dass der Sinn von außerhalb kommt und festgelegt ist, ist die Ansicht der Religiösen, nicht unsere. Nur auf diesem Dissens beruht die Möglichkeit, Religionen zu respektieren.

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Jan Philipp Fürchtegott Reemtsma (Jg. 1952), deutscher Philologe, Kulturmäzen und Essayist, lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Uni Hamburg und leitet das Hamburger Institut für Sozialforschung, das in den 90er-Jahren durch die kontrovers diskutierten Wehrmachtssausstellungen internationale Öffentlichkeit erlangte. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.9.2007)