Anmerkungen zum intellektuellen Profil einer wissenschaftlichen Zunft, deren Gegenwart und Zukunft ab Dienstag Thema eines dreitägigen Kongresses in Graz ist.

*****

Im legendenumwobenen Club 2 nannten sich viele Diskutanten gerne "Soziologe", auch solche, die man weder auf den Tagungen der Soziologen noch in deren Uni-Instituten jemals zu sehen bekam. Heute ist das anders. Sogar Professoren der Soziologie treten lieber als vagabundierende Kulturwissenschafter, Pensions-, Arbeitsmarkt- oder Altersexperten, Philosophen oder Trendforscher auf, ganz zu schweigen von den Demoskopen, Meinungsforscherinnen und den Beratern für alles und jedes, die das, was sie im Soziologiestudium gelernt haben, längst über Bord gehen haben lassen. Wer sich kritisch wähnt, nennt sich heute lieber Globalisierungskritiker und nicht mehr Gesellschaftskritiker.

Mit einem in den 70er-Jahren gerne benutzten Ausdruck lässt sich sagen, dass die Soziologie ihre "kulturelle Hegemonie" verloren hat - und darüber nicht einmal besonders traurig zu sein scheint. In die soziologischen Uni- und anderen Institute ist eine gemächliche Ruhe eingekehrt. Das ist nicht gut, weder für die Soziologen und Soziologinnen noch für das Objekt der Erkenntnisbegierde und des Veränderungswillens von früher: die Gesellschaft, die von österreichischen Soziologen immer noch gern als G'sellschaft ausgesprochen wird. Viel mehr an intellektueller Kontinuität ist allerdings nicht erhalten geblieben.

Der Verlust an Ansehen der Soziologie hat mehrere Gründe. Zu allererst ist hier das gemeinsame Altern jener, die in Österreich in den 70er-Jahren ihre Karrieren als Soziologen begannen, zu nennen. Nahe oder jenseits der Pensionsgrenze zeigen sie die Agilität des geistigen Vorruhestands. Die müde gewordene Generation der aktivistischen "68er" hat sich aber nicht nur mit ihrem eigenen Ergrauen abgefunden, sie hat es vor allem versäumt, Jüngeren Betätigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Die Zahl der Uni-Stellen stagniert seit Jahren, und wo kein Nachwuchs, da keine neuen Impulse.

Der Alterungsprozess hat bei einigen derer, die seit den 70er-Jahren Soziologie lehren, den generationellen Affekt, sich Moden nicht zu verschließen, allerdings nicht einschlafen lassen. Als die Leitwissenschaft der Jahre der Reformpolitik an Attraktivität verlor, wandten sich viele dem neuen Steckenpferd der Geisteswissenschafter, den Kulturwissenschaften, zu. Das führt manchmal in interessante Gefilde, allzu oft jedoch nur zu einem gestelzt daher kommenden zeitgeistigen Raunen über Alterität, Identität und andere begriffliche Monster. Im Fahrwasser der Kulturwissenschaften sagte die Soziologie der Politik und Gesellschaftskritik ade.

Die Folge war, dass nach den euphorischen Zeiten der Politikberatung, Sozialplanung und Gesellschaftsreform, in deren Fahrwasser Gesellschaftskritik immer auch noch ein wenig Platz fand, die Soziologie in Österreich seit vielen Jahren durch eine merkwürdige Gesellschaftsferne gekennzeichnet ist. Die großen Themen der Gegenwart werden entweder ignoriert oder den dafür zuständigen Experten überlassen, die oft genug nicht wegen ihrer wissenschaftlichen Reputation zu Experten auserkoren werden, sondern dazu wurden, weil sie die von den Auftraggebern erwünschten Resultate zu liefern versprachen.

Heute fehlt es aber nicht nur an einer Gesellschaftskritik, die sich, wenn sie von Soziologen formuliert wird, von jener der Caritas unterscheiden sollte; es besteht auch ein schierer Mangel an Sozialberichterstattung. Während es beispielsweise in England regelmäßig erscheinende Veröffentlichungen über "Recent Social Trends" gibt und die meisten anderen westlichen Länder ähnliches produzieren, sind heimische Zeitgenossen, die sich über die sozialen Trends knapp, aber auch kompetent recherchiert informieren wollen, auf sich selbst gestellt und müssen ihr Informationsbedürfnis mit Googeln befriedigen.

Das Fehlen einer regelmäßigen österreichischen Sozialberichterstattung kann nicht den Soziologen angelastet werden. Höchstens kann man ihnen vorwerfen, ihre Bereitschaft, derartiges zu produzieren, nicht lautstärker vorgebracht zu haben. Sozialberichterstattung in Auftrag zu geben, dafür ist die Regierung zuständig.

Dass die Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte allesamt der Meinung waren, auf soziologische Gegenwartsanalyse rundweg verzichten zu können, spricht für sich und legt die Annahme nahe, dass der Spruch "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" das heimliche Motto aller Bundesregierungen war, gleich welche Parteien in ihnen vertreten waren.

*****

Der an der Universität Graz lehrende Autor ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS), die von 25. bis 27. 9. ihren Jahreskongress abhält. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2007)