Es ist nicht ganz zehn Uhr. Die Luft steht fett im Zimmer wie ein Mann mit dickem Bauch. Links die gewaltige Fensterfront, die drei anderen Seiten Mauern mit Pausen für Türen. Da sind drei Durchgänge, einer in jeder Wand. Wir sitzen uns vis-à-vis. Sie, mit den Runzelfurchen, schaut arg mitgenommen drein. Stumm vor sich, mit baumelndem Kiefer, als lockte die Schlange Kaa. Ich bin jung und weiß noch nicht immer, wohin sehen. Ihre rechte Hand streicht über die Tischdecke. Sie leckt sich die Lippen, glänzt silbern. Wir wie zwei Echsen im Kunstlicht, harrend hinter Terrariumglas.
Als meine Mutter kommt und ihr Tee eingießt, schaut sie auf. Die beiden lächeln. Ich denke, dass sich alles besser anfühlt, wenn man tut, als wäre es ehrlich gemeint. Draußen im Garten, nahe bei uns, wölbt sich das Rosenbeet. Ich will hinsehen, an Sommer und knallpinke Blüten denken, doch mir fehlt die Geduld. Meine Mutter lupft die Tablettendose. Hier, sagt sie, die musst du noch nehmen. Schon wieder, ruft meine Großmutter aus. Schrill und automatisch, sie hat sich angewöhnt, unzufrieden damit zu sein, wie die Dinge laufen. Meine Großmutter seufzt. Sie verdreht ihre Augen sehr langsam. Ich befürchte, sie könnte vergessen, sie auf die Welt zurück zu richten. Der Tisch, an dem wir sitzen, ist groß und stets eingedeckt. Auch nachts, für das Frühstück am Morgen.
Die Süßstoffdragées platschen grob in den Tee. Früher flache Steine in Teiche, rollende Wellenringe, Wasserkreise. Heute leise, leise ein versuchter See aus Tee. Meine Großmutter schüttelt den Spender und zählt: Eins, zwei, drei. Der Tag fängt gut an. Jedes Süßstoffbisschen sinkt. Ich will etwas sagen, den Schwung der Zahlenfolge nutzen, um ein Gespräch zu beginnen. Habe die Hoffnung, dass ein paar sorgsam ausgewählte Sätze das andere geistige Ufer erreichen. Meine Mutter ist schneller. Sie müsse ein paar Besorgungen machen. Es dauere sicher ein Weilchen. Sie empfehle uns, die Gelegenheit zu nutzen und über Mittag auswärts essen zu gehen. Ihre Frisur hat die Form eines vietnamesischen Hutes. Sie will uns Nahrung aus dem Wasser lesen. Meine Großmutter stellt den Süßstoffspender beiseite. Sie greift nach dem Frühstücksmesser, das schon benutzt vor ihr auf dem Porzellan liegt. Eine ausgezeichnete Idee, findet sie und steckt die buttrige Klinge in ihre Tasse. Rührt. Die Messerspitze stößt dabei auf den Tassenboden. Es bilden sich rissige Flocken. Teerosen. Ich lehne mich über den Tisch, nehme das Messer an mich. Meine Mutter streckt mir aus dem Reisfeld ihren sauberen Kaffeelöffel entgegen. Sie denkt immer an alles. Ich halte ihn meiner Großmutter hin. Weil sie nicht reagiert, fasse ich ihr Handgelenk und schiebe den Löffel von oben in ihre Faust. Meine Mutter sagt: Du weißt ja, wo das Geld ist. Ihre Stimme klingt dumpf aus dem Kegelhut. Ich will ihr ein Gedicht auf seine Innenseite malen.
Das Restaurant Krebsbach liegt unten am Hang. Man hat es in einen Klotz aus Beton geschlagen und Teile davon leuchtorange angemalt. Nirgends ein Bach, geschweige denn Krebse. Meine Großmutter hält meinen Arm, als wir die Straße hinabspazieren. Sie erkundigt sich, ob ich den Weg kenne. Ich tue, als hätte ich sie nicht gehört. Es strengt mich an, langsam zu gehen, ihr nicht voraus zu rennen. Da ist dieser innere Drang.
Wir schweigen eine Viertelstunde, bis wir das Krebsbach erreichen. Sie bleibt vor dem Eingang stehen, sagt: Hier – ohne den Satz zu beenden. Ich führe sie durch den Eingang und helfe ihr aus dem Mantel. Ihr Pelzkragen kuschelt sich an meinen Arm. Die Einrichtung trübt und entmutigt. Ich wünsche mir Waldgefühl, Farne und Moos. An der Wand Fototapete in Polycolor, auf der endlich ein Bach rauscht. Hinter dem Tresen, der felsvorsprungmäßig in den Raum ragt, hängt ein Plakat. Es zeigt verschiedene Garnelen, Krabben und Krebse nach Art und Größe sortiert. Die Wirtin, eine Dame mittleren Alters, begrüßt meine Großmutter mit Namen. Sie errät, dass ich die Enkelin bin, und stellt fest, dass ich seit meiner Tauffeier, die, wie ich sicher wisse, hier im Krebsbach ausgerichtet worden war, gewachsen bin. Meine Großmutter staunt: Tatsächlich? Die beiden lachen. Die Wirtin zwinkert mir zu. Will Beifall dafür, dass sie klug genug war, das Totenmahl nach der Beerdigung meines Großvaters nicht zu erwähnen. Welches Tier ist die Wirtin, denke ich, welches Tier wäre die Wirtin, wenn sie eins wäre. Wir werden an den besten freien Tisch geleitet, für zwei Personen am Fenster. Ist das so recht? schreit die Wirtin. Meine Großmutter widerspricht nicht, ich werte ihr Schweigen als Einverständnis. Wir nehmen Platz. Die Wirtin richtet den Vorhang. Ich möchte Lichtung, in einer hohen Wiese zwischen Bäumen Käsebrote essen, aber hinter der dreckigen Scheibe ist nur leerer Parkplatz: körniger, schroffer Asphalt. Die Wirtin räuspert sich. Sie hält mir eine Speisekarte unter die Nase. Ich beginne, das Menü vorzulesen, da breitet die Wirtin ihre Flügel aus, sinkt nieder und fragt meine Großmutter, ob es das Tagesgericht sein darf. Ich, bei mir, weiß: die Frau ist kein Adler. Seniorengröße? kräht sie. Meine Großmutter nickt. Wenn sie jemanden mag, ist sie für alles zu haben. Ich meinerseits bin nicht hungrig und kann mich nicht entscheiden. Die Wirtin wartet. Sie schwingt einen Kugelschreiber zwischen zwei Fingern. Um sie loszuwerden, will ich einen Liter Sprudel. Die Wirtin steckt sich den Stift an die Bluse. Sie bückt sich, um meiner Großmutter die Serviette über die Knie zu legen. Ihr Rücken ist auffällig lang. An ihren Beinen, unter der hautfarbenen Strumpfhose, wächst langes, sprödes Haar. Als sie bemerkt, dass ich sie studiere, vertiere, eilt sie hinter den Tresenfelsen. Ruckartig wie eine Walzenspinne unter den Wüstenstein.
Das Lokal ist halbvoll. Rechts von uns ein junges Paar. Er im Jackett, schwadronierend. Sie satt und reglos. Da lacht meine Großmutter laut. Sie wirft amüsiert den Kopf in den Nacken und schlägt ihre Handkanten hart auf den Tisch. Ihr goldenes Kettchen vibriert ob der Leibhaftigkeit, mit der der Spaß sie rüttelt. Ich frage, was ist. Sie bekommt kaum Luft. Grölt: Siehst du nicht, mein Kind, wie der eitle Pfau neben uns das arme Mädchen langweilt?
* * *
Auf dem Heimweg läuft sie vor ein Auto. Der Fahrer des Wagens bremst rechtzeitig, aber laut. Meine Großmutter schimpft, solchen Leuten gehöre der Führerschein aberkannt. Ich pflichte ihr bei und nehme mir vor, sie für den Rest ihres Lebens im Auge zu behalten. Noch vor kurzem hätte sie an dieser Stelle ihren weißen Fiat Sport erwähnt. Die Hauptstraße perlt in der Sonne.
Wir verbringen den Nachmittag auf dem großen Perserteppich im Wohnzimmer. Manchmal erhebt sich meine Großmutter von ihrem Sessel und dreht ein paar Runden um die Couchgarnitur. Sie nimmt die Kurven eng, streift die Polster. Sobald es dämmert, kurbeln wir die Rollläden herunter, dass es nur so klappert. Als meine Mutter ihre Einkäufe in der Eingangshalle abstellt, steht meine Großmutter neben mir vor dem Fernseher. Sie steht so krumm, dass ihre Brüste in den Achselhöhlen hängen. Ich schalte den Apparat aus und gehe, um meine Mutter zu begrüßen. Sie fragt, wie es im Krebsbach gewesen sei. Ich erzähle ihr von dem Schönling und seiner Frau, und auch, was meine Großmutter für das ganze Restaurant hörbar über die beiden sagte. Meine Mutter findet die Episode lustig. Im Nachhinein gefällt sie mir auch. Von dem Zwischenfall auf der Hauptstraße erzähle ich ihr nichts. Meine Großmutter unterdessen steht seitlich zu uns, den Blick noch immer auf den Bildschirm gerichtet. Da ist keine Farbe, kein Ton, nur der Bogen ihrer schmalen Figur, die sich spiegelt. Sie benimmt sich, als wäre sie heute Mittag nicht dabei gewesen. Meine Mutter fasst sie am Arm und fragt, ob das Essen im Krebsbach geschmeckt hat. Es vergeht ein Moment. Meine Großmutter schließt ihre Augen und zuckt mit den Schultern. Ich denke schon, sie erinnert sich nicht, da meint sie: Es geht.
Ich helfe meiner Mutter dabei, die Plastiktüten in die Küche zu tragen. Es sind vier volle, die sich wichtig ausbeulen. Meine Großmutter folgt uns. Während meine Mutter die Einkäufe entpackt, räume ich die Spülmaschine aus. Ich stelle mich ungeschickt an, das Geschirr schlägt ständig gegen einander. Meine Großmutter steht im Weg und streichelt die Topflappen. He, sagt sie, du, und wedelt mit einem in meine Richtung, wann kommt er? Ich weiß nicht, wen sie meint. Draßen, vor dem Sepiahimmel, wiegt der Wind zwei Pappeln. Meine Mutter leert die Krümel aus der Brotschneidemaschine in den Müllsack. Bald, sagt sie. Und in der Tat dauert es keine zehn Minuten mehr, bis der Alfa meines Onkels vorfährt.
Mein Onkel trägt eine Lederjacke, die aussieht wie ein abgewetzter Autositzbezug. Er grüßt im Vorbeigehen, mit einem labberigen Winken. Sein erster Gang gilt jeden Tag der ungeöffneten Post. Meine Großmutter stellt sich neben ihn hin, während er die Bescheide und Rechnungen mit dem Brieföffner aufschlitzt; sie will auch ein bisschen Kommunikation abhaben. Mein Onkel hat Hänge- backen, Hängeschultern. Wie ein Waran. Meine Großmutter reibt seinen Rücken. Er lässt sie gewähren. Als sie beginnt, den Kinderreim vom Bären aus Konstanz zu murmeln und sich ihre Nägel in seinen Nacken graben, schüttelt mein Onkel sie von sich. Er macht dabei ein Geräusch als versuche er, ein Haar von der Zunge zu spucken.
Ich decke für vier. Für meinen Onkel und meine Mutter an den Tischenden, wo früher mein Großvater und meine Großmutter saßen. Außer der Sitzordnung hat sich im Raum nichts verändert. Auf dem Biedermeierschrank tickt die weinrote Stockuhr. Daneben, beklemmend, ein Fabrikhof in Öl. Ruß und Schornsteine, aus denen schwarzer Rauch vor einen gallegelben Tag quillt. Dieses Haus ist ohne Zärtlichkeit, seit ich es kenne.
Ich rufe zu Tisch. Nichts passiert. Niemand will Nahrung. Ich rufe erneut. Meine Großmutter schleicht um die Ecke. Sie verzieht das Gesicht: Nicht so laut! Ich flüstere: Essen ist fertig. Sie sieht mich groß an. Ich gehe an ihr vorbei, um meinen Onkel zu holen. Er liegt im Lieblingssessel meines Großvaters, die Beine ausgestreckt, die weiß besockten Füße überkreuz. Ich wiederhole: Das Essen ist fertig. Er bedeutet, dass er nicht mitisst. Ich sage ach so und frage mich, was er dann hier will.
Es gibt gemischten Salat. Meine Großmutter gafft auf ihr leeres Gedeck als wollte sie ihre Pupillen servieren. Die Bitte, mir ihren Teller zu reichen, erfüllt sie nicht. Meiner Mutter fällt auf, dass das Salz fehlt. Wir salzen nie nach, aber ich biete ihr an, es zu holen. Sie schüttelt den Kopf, ihren vietnamesischen Frisurhut, und erhebt sich. Nicht eine Mahlzeit, die sie aushält, ohne aufzustehen. Während sie in der Küche ist, verkündet meine Großmutter: Ich gehe. Sie stemmt sich vom Tisch und wankt davon wie ein Säufer. Die Szene, denke ich, ist ein Limerick. Leicht, schwer, leicht, leicht, leicht, schwer: Die Buchstaben in unsren Köpfen/ ein farbiges Wortblumenbeet./ Die Mutter im Reisfeld, mit Hut,/ pflanzt, jätet, sät./ Bloß über Großmutters Garten im Hirn kam die Flut.
Mein Onkel hat es sich anders überlegt, er hat sich doch zu uns gesellt. Seine Bierflasche tropft einen nassen Ring auf die Tischdecke. Meine Mutter streckt ihm einen Untersetzer hin, den er wortlos annimmt. Es vergehen Minuten, ohne dass wir die Klospülung hören. Den altersschwachen Darm meiner Großmutter vor Augen, schiebe ich die Karotten mit meiner Gabel zur einen, dann die Tomaten zur anderen Seite des Tellers. Einer von uns wird nachsehen müssen, wo sie bleibt. Ich lieber nicht. Vielleicht ist sie gestolpert. Die Alten stolpern ja, bevor sie sterben. Meine Mutter erklärt sich bereit, legt ihr Besteck beiseite. Mein Onkel steht schon. Im Raum das Geräusch seiner rutschigen Schritte auf dem Parkett. In meinem Rücken das heftige Ticken der Stockuhr, die nie, aber auch wirklich niemals je Ruhe gibt. Es ist schummrig im Zimmer, trocken und fahl.
Wir hören meinen Onkel an die Türe schlagen und Mami rufen. Wir hören keine Reaktion. In mir die Vorstellung der gestolperten Großmutter, auf dem Boden liegend oder kopfüber in der Badewanne. Meine Mutter unruhig, ihr Reisfeld absuchend. Mein Onkel, der warnt: Ich komme jetzt rein. Es ist noch nicht lange her, dass meine Mutter und ich für Fälle wie diesen sämtliche Zimmerschlüssel aus ihren Schlössern gezogen und hinter dem Brandy versteckt haben. Wir hören, dass mein Onkel die Klinke aufdrückt. Dass er sie gleich darauf wieder loslässt. Hören, wie sie klackend in die Horizontale zurück springt. Die Abscheu, die meinen Onkel überkommt, produziert einen herzlosen Laut. Sie kracht vor uns vorbei wie ein endloser, wuchtiger Schnellzug. Er zischt: Du bist ekelhaft. Und: Das ist widerwärtig.
Meine Mutter und ich stehen unter der Tür, da hebt mein Onkel meine Großmutter gerade in die Badewanne. Er, breitbeinig, in einer birnen- förmigen Wasserlache. Seine Socken sind feucht bis über die Fersen. Meine Großmutter wimmert, leistet allerdings keine Widerwehr. Sie ist diese Puppe an Fäden, die mein Onkel zieht. Ihre Ärmel, ihr Rock, ihre Strumpfhose und ihre Hausschuhe sind durchnässt. Ihre Kleidung ist ein runder, dunkler Fleck. Wasser tropft vom geschlossenen Klodeckel und von der Unterseite des Waschbeckens. Es ist tropisch hier, es fehlt nur der Regen, der sich quer ins Bild wirft. Meine Mutter versteht, was passiert ist. Sie sagt Hol einen Lappen zu mir. Wir brauchen auch frische Kleidung. Ich, Staunende, rühre mich nicht. Mein Onkel flucht, schält sich mit spitzen Fingern aus seinen Strümpfen. Ich finde, er übertreibt. Meine Großmutter sitzt in der Bade-wanne und weint. Es riecht nach Moder. Mein On- kel haut auf den Badewannenrand. Sein Schlag wirkt unbeholfen. Meine Großmutter reagiert nicht. Er kreischt: Bist du nicht ganz dicht, dass du dir in die Hose machen musst? Bist du ein Baby? Meine Großmutter legt den Kopf in den Nacken, heult auf. Meine Mutter, Anziehsachen und Frotteetücher im Arm, sagt: Lass sie zufrieden, das war keine Absicht. Ich hole die Lappen. Versuche, mich an die Zeit zu erinnern, in der meine Großmutter wusste, wie Pinkeln geht.
Die Putzlumpen liegen gefaltet im Besenschrank. Ich nehme drei heraus, dazu den blauen Eimer, in dem die Mops stehen. Es gibt Tage, an denen ich über die Ausbrüche meines Onkels lachen kann, aber nicht heute. Heute ist grässlich.
Zurück im Bad trägt meine Großmutter schon frische Unterwäsche. Sie steht mit dem Rücken zu uns in der Wanne. Sieht rosa aus. Meine Mutter will, dass sie sich umdreht. Sie hält eine trockene Pyjamahose auf. Einsteigen, befiehlt mein Onkel. Oder willst du morgen noch hier stehen? Meine Großmutter schüttelt den Kopf. Nein, sagt sie. Mein Onkel runzelt die Stirn. Seine Haut schuppt. Waran.
Es vergehen zwanzig Minuten. Meine Mutter erntet Unterwäsche, Strumpfhose, Rock und Pullover meiner Großmutter, wirft sie in den blauen Eimer. Mein Onkel sieht auf die Handtücher und Lappen hinab, die er auf den Badezimmerkacheln ausgebreitet hat. Er scheint darauf zu warten, dass der Boden sich selbst wischt. Meine Mutter ist wütend auf ihn: Hebst du sie auch wieder aus der Wanne heraus? Wenn sie wütend ist, sind ihre Muskeln verkrampft und ihre Bewegungen kantig. Ich sehe, dass sie versucht, den Streit im Mund zu behalten. Wenigstens bis später am Abend, wenn meine Großmutter schläft.
Während meine Mutter meine Großmutter tröstet und mein Onkel den blauen Eimer in die Waschküche trägt, decke ich den Tisch ab. Ich sortiere das saubere Besteck meines Onkels zurück in die Schublade. Seinen Teller stelle ich in den Esszimmerschrank, auf die anderen Teller mit Blattgoldrand. Der Gedanke an Frühstück kommt geschmacklos daher, ich decke jetzt nicht wieder ein.
* * *
Es ist nicht ganz zehn Uhr. Die Nacht, die sich dem Haus um den Hals legt, ist lau. Meine Wange juckt an der Stelle, an der meine Großmutter ihren Gutenachtkuss geleckt hat. Auf Wiedersehen, hat sie gesagt.
Wir sitzen zu dritt im Wohnzimmer, als meine Mutter die Luft einzieht: Die Medikamente! Mein Onkel und ich sehen sie an. Scheiße, sagt er gelassen und langt nach der Fernbedienung, die zwischen ihm und der Armlehne klemmt. Meine Mutter springt auf. Wasserschlange, Blutegel, denke ich, sage: Sie schläft bestimmt schon. Meine Mutter, im Gehen, sagt: Hoffentlich.
* * *
Ich höre sie rufen. Zweimal weit weg, bei den Schlafzimmern. Dann laut und nah, in der Eingangshalle. Es brennt überall Licht, das ganze Haus ist erleuchtet. Die Türen sind offen. Reisrispen bis zum Horizont. Meiner Mutter und ihre Fassungslosigkeit kommen mir aus dem Gästezimmer entgegen. Ich frage: Im Keller vielleicht? Wir steigen nach einander hinab. Die Treppe windet sich eng. Meine Großmutter ist nicht in der Waschküche, nicht im Heizungsraum, nicht in der Vorratskammer und nicht zwischen den Wintersachen. Sie ist nicht im Weinkeller, nicht in der Rumpelkammer und nicht in der Garage. Meine Mutter ist hochnervös, ihre Brauen schieben sich zu einem Strich. Sie sieht aus, als bekomme sie Migräne. Mein Onkel ist uns gefolgt: Habt ihr sie? Ich verneine. Er sagt, er nimmt das Auto. Meine Mutter soll den Spazierweg entlang gehen, der neben dem Haus beginnt. Den Weg, der die Hügel hinaufführt zum Waldrand. Ich bleibe, falls meine Großmutter heimkehrt.
Die zwei eilen fort. Ich stelle mich vor die Küchenfenster. Mache eins auf, lausche, spähe. Nachdem die Lampe des Bewegungsmelders erlischt, erkenne ich kaum mehr etwas. Auf dem Land ist es immer stockfinster während der Nacht. Wo, denke ich, sie wohl hin ist? Ich hoffe sehr, dass sie nicht stolpert.
Dreiundzwanzig Minuten verlaufen sich auf den Fluren. Dann die Haustür. Mein Onkel schiebt meine Großmutter vor sich über den Fußabtreter. Ihr Haar ist wirr, das Pyjama bis zu den Knien voll Erde. Sie friert. In ihren Lachfalten hängen ein paar Krümel Humus. Aus Siebels’ Rosenbeeten habe ich sie gezogen, da hat sie im Dreck gewühlt, brummelt mein Onkel. Musste sein, behauptet meine Großmutter. Ich ziehe sie zu mir, streiche ihr übers Gesicht: Was du nicht sagst. Sie nickt: Ich habe die Wörter gesucht. Wir sehen uns an. Unmöglich, dass sie weiß, was sie redet. Mein Onkel wirft seinen Schlüssel auf die Garderobenkommode. Genau, blafft er, du spinnst ja.
Ich schrubbe meiner Großmutter gerade die Finger mit der Nagelbürste, als meine Mutter ins Bad lugt. Ohne Kegelhutfrisur. Da bist du ja, sagt sie und meint meine Großmutter. Da bist du ja, sage ich und meine sie. Ich erzähle, wo mein Onkel meine Großmutter gefunden hat. Meine Mutter schüttelt den Kopf: Was hast du denn da bloß gemacht? Ich wasche die Nagelbürste aus und drehe den Wasserhahn zu. Meine Großmutter hebt das Kinn. Sie sieht meiner Mutter verzückt in die Augen, als sie fragt: Wo, Liebes? (Annina Schmid) (die Kurzfassung des Textes erschien in: ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 29./30.09.2007)
>>>Wortlaut, der Preis, das Buch, die CD
Wortlaut, der Preis, das Buch, die CD
Die Gewinnerin heißt also Annina Schmid, doch vielleicht zunächst einmal zum Statistischen. Seit sechs Jahren schreibt FM4 seinen Literaturwettbewerb Wortlaut für Nachwuchstalente, die noch kein Buch veröffentlicht haben, aus. Und dies mit immer größerem Erfolg. 900 Kurzgeschichten zum Thema Flut wurden heuer aus Deutschland, der Schweiz, Ungarn, Bosnien-Herzegowina, Spanien, Frankreich und natürlich vor allem aus Österreich an den Sender geschickt. Die meisten AutorInnen sind zwischen 17 und 27 Jahren alt, wobei 60 Prozent der Texte von Männern kommen. Die Jury (bestehend aus Arno Geiger, Christian Kracht, Jessica Hausner, Tex Rubinowitz und der Vorjahressiegerin Yvonne Giedenbacher) hat, wie es heißt, in "überraschender Einstimmigkeit" die zehn besten Geschichten ausgewählt.
Der erste, mit 1000 Euro dotierte, Preis geht an Annina Schmid, der zweite an Margot Fink (750 €) der dritte an Murat Aschabadi (500 €). Die zehn besten Texte kann man im Buch Wortlaut 07. Die Flut (Hrsg. v. Zita Bereuter & Pamela Rußmann, Luftschacht Verlag, € 11,90) nachlesen. Zum ersten Mal erscheinen die zehn besten Texte, gelesen von beliebten FM4-Stimmen, auch als Hörbuch (€ 11,50). Eine feine Sache. Infos: fm4 (red / ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 29./30.09.2007)