Thomas Stangl über die Mathematik der Natur. (Zeichnung: Ander Pecher)

Zeichnung: Ander Pecher

Wo die Wissenschaft an die Esoterik zu grenzen beginnt: Auch die Anzahl der Samenspialen in den Blüten von Sonnenblumen folgt der Fibonacci-Reihe.

Foto: DER STANDARD/Ben Mellish et al.
1, 2, 3, 5, 8, 13 ... so beginnt die Fibonacci-Folge, die auf der Addition der jeweils nächsten Zahl mit der vorhergehenden beruht. Das Merkwürdige daran: Fibonacci-Folgen finden sich in Pflanzen ebenso wie in der Physik. Und Börsenanalysten verwenden sie auch.

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Wien - Man beginnt mit 1, rechnet 1 dazu und addiert jeweils die neue Zahl mit der vorhergehenden; eine Zahlenreihe entsteht, die zuerst, in vorchristlichen Jahrhunderten, von indischen Autoren beschrieben wurde und nach dem italienischen Mathematiker Fibonacci aus dem 13. Jahrhundert benannt ist. Damit erklärte er beiläufig, wie sich Kaninchen, wären sie unsterblich und würden sie nach dem Kalender gebären, vermehren würden.

Diese Kaninchenrechnung war für Fibonacci bloß eines der Rechenspiele, zu denen die in Europa gerade erst in Gebrauch kommenden "neun Zahlenzeichen der Inder" anregten; später aber taucht die Zahlenreihe 1-1-2-3-5-8-13-21-34-55 etc. oder auch ein Segment dieser Zahlenreihe, an den verschiedensten unerwarteten Orten wieder auf.

Wie viele an sich schlichte mathematische Formeln entwickelt die sogenannte Fibonacci-Folge eine Art von Schönheit und erzeugt zugleich, durch die Kurve ins Unendliche hin, die sie zieht, ein Gefühl des Bodenlosen. Sie ist mit dem "Goldenen Schnitt" verwandt, auf Gebieten wie Börsenanalyse, Botanik, theoretische Physik oder Zahnmedizin (vgl. Vadachkoria, Gumberidze et al., Gold Proportion and its application to calculate denture, Georgian Med. News., 2007) mit mehr oder weniger Geschick anwendbar; und öffnet den Raum für die verschiedensten Spekulationen.

Beobachtungen aus der Biologie rund um Fibonacci-Zahlen und den Goldenen Schnitt bewegen sich an der manchmal überraschend dünnen Trennlinie zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und esoterischen Phantasien; oder in noch abwegigeren Bereichen. So wenig wie es eine Weltverschwörung rund um Fibonacci-Zahlen und Pentagramme gibt, so wenig verbergen sich im Goldenen Schnitt die Gesetze einer universalen Harmonie; merkwürdig genug ist aber, wie die Formen mancher Pflanzen oder Pflanzenteile Fibonacci-Zahlenverhältnissen zu folgen scheinen.

Der Blattstand von Ulmen und Linden, von Buchen, Eichen, Pappeln und Weiden beschreibt Drehungen, die sich in Brüchen von aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen darstellen lassen (und, für die verschiedenen Baumarten aneinandergereiht, eine Art Meta-Fibonacci-Folge bilden); die Blüten von Sonnenblumen zeigen 34 linksdrehende und 55 rechtsdrehende Samenspiralen, bei größeren Exemplaren 144 und 233 Spiralen.

Ein Sprung in die Tierwelt führt zur amerikanischen Tudlow-Schildkröte, deren charakteristischer seufzender Gesang, ein Paarungs- und zugleich Hilfeschrei, wie es heißt, an manchen Sommerabenden zu hören ist und regelhaft und rapide an Nachdruck gewinnt; nach einer Folge von 55 oder manchmal erst 89 Lauten verlieren die Schildkröten das Bewusstsein.

Natürlich gibt es auf verschiedenen Ebenen wissenschaftliche Erklärungen für die meisten dieser Phänomene; im Wesentlichen basieren sie darauf, dass ein irrationales Zahlenverhältnis (Phi, der als unendlicher Kettenbruch darstellbare Quotient zweier aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen) eine optimale Streuung im gegebenen Raum ermöglicht.

Wege durchs Gitter

Der Physiker Arthur J. Benjamin hat in Fibonacci Quarterly (Bd. 44, Nr. 4), der Zeitschrift der Fibonacci-Gesellschaft nachgewiesen, dass Fibonacci-Zahlen nicht zufällig eine Rolle spielen, wenn man versucht, einen Weg durch ein Gitter zu berechnen, in dem kein Punkt zwei mal betreten wird und man, wie es schön heißt, "niemals zurückschaut". So kann eine Struktur von Blättern oder Blüten, nach der Zahl Phi ausgerichtet, gleichmäßigen Lichteinfall gewährleisten.

Aber warum kann man die Mathematik der Pflanzen bewundern und akzeptieren, während der Gesang der Tudlow-Schildkröte (die übrigens ausschließlich in einem Lied der Gruppe They might be giants vorkommt) absurd und ein wenig rührend erscheint, so als wären diese Tiere Maschinen, aber unbeholfene Maschinen?

Welchen Weg hat man eigentlich von den Blättern und Zweigen, den Sonnenblumen zu den Zahlen zurückzulegen? Sind die Maße und Koeffizienten Übersetzungen aus der Natur in ein menschliches (aber doch nicht einfach ausgedachtes) Symbolsystem oder ruhen sie in der Natur selbst? Wo endet die Übersetzbarkeit; wo würde die Übereinstimmung absurd, weil eine andere Ebene beginnt? Was an den Naturgesetzen ist Natur, was Gesetz; was an der Natur entgeht den Gesetzen und verlangt eine andere Sprache (der ebenso etwas an ihr entgeht)?

Fibonacci verdichtet

Der Gedichtband Alphabet der dänischen Lyrikerin Inger Christensen ist nach der Fibonacci-Folge aufgebaut, er beginnt mit der einzelnen Zeile "Die Aprikosenbäume gibt es" und bricht mitten im Buchstaben N (610 Zeilen) ab. Dazwischen entdeckt Christensen Buchstabe für Buchstabe und Schritt für Schritt die Welt neu für sich, die Brombeeren gibt es, das Brom, die Neutronenbombe, den Regen der Alphabete, die Toten.

Hätte sie bis zum Z weitergeschrieben, wäre ein über zehntausend Seiten dickes undurchdringliches Textgebilde entstanden. In den Zwischenräumen der Formel entsteht der Text; und bricht ab und lässt den Blick auf einen unendlichen Raum für Entdeckungen frei.

Die Weltverschwörungstheorien oder Harmonielehren basieren auf dem Gefühl von Bodenlosigkeit; überdecken es aber nur mit ihren selbstsicheren Behauptungen. Eine andere Möglichkeit ist es, auf die Leere, die kleinen Ohnmachten des Realen zu setzen; zwischen den mathematischen Formeln und den Dingen, der Notwendigkeit der Formen und dem Schwindel der Unübersetzbarkeit. (DER STANDARD, Printausgabe, 6./7. 2007)