Anna Mitgutsch über die Normierung der Psyche. (Zeichnung: Ander Pecher)

Zeichnung: Ander Pecher
Graz - Wie die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch Gefühle in Zeiten des Kapitalismus nachweist, bestimmt der psychotherapeutische Diskurs mit seiner Betonung auf Emotionen den öffentlichen Raum und die Arbeitswelt - und zwar nicht nur in Form einer wahren Flut an Ratgeberliteratur sondern auch als Stil im Management. Gleichzeitig stellt sie eine emotionale Verarmung des Privaten fest.

Längst ist eine popularisierte Variante der Psychoanalyse so weit in Sprache und Denken des Alltags eingedrungen, dass es keinen Lebensbereich mehr gibt, der von ihr nicht durchtränkt würde. Dieses Denken ist jedoch nicht wertneutral, sondern normativ und wird in einer Zeit, deren Stärke die Einfühlung ohnehin nicht ist, als Instrument der Ausgrenzung benutzt.

In einer Gesellschaft, deren größte Anliegen Wellness und Fitness des Einzelnen sind und die es zum moralischen Imperativ macht, unter allen Umständen nach dem eigenen Wohlbefinden zu trachten, wird alles, was dieses Wohlbefinden durch ein Abweichen von der angestrebten Normalität stören könnte, als Behelligung, ja geradezu als Vergehen empfunden.

Trotz zunehmenden Anpassungsdrucks gibt es jedoch nach wie vor Unterschiede unter den Menschen, und es gibt auch das Unerklärliche, das sich dem selbstgefälligen gesunden Hausverstand der Mehrheit entzieht und dessen Absolutheitsanspruch in Frage stellt. Jeder Mensch, auch wenn er von der Gesellschaft an den Rand gedrängt und als Abfall stigmatisiert wird, steht im Mittelpunkt seines eigenen Universums, und von da aus vermisst er seine Realität. Das ist die Grundlage der Menschenwürde eines jeden Menschen.

Niemand, der von seiner Umwelt noch nicht völlig gebrochen wurde, wird in seiner Existenz eine Abweichung sehen und sich selber aus einem fremden Blickwinkel als das ganz Andere betrachten.

Selber schuld

Die Psychologisierung, die den Einzelnen und sein unmittelbares Umfeld als Fall betrachtet und größere gesellschaftliche Strukturen vernachlässigt, hat auch soziale Ungerechtigkeit ins Private verkehrt. Damit ist jeder, der zu den Verlierern zählt, jeder, der von den Normen abweicht, nicht nur krank und therapiebedürftig, sondern auch selber daran schuld und verdient daher weder Mitgefühl noch Hilfe, es sei denn in Form der Psychotherapie.

Wie Susan Sontag und Michel Foucault zeigten, münzt die Gesellschaft Krankheit leicht zum Verbrechen um. In einer Zeit, in der politische Korrektheit die Sprache zu so mancher Verrenkung zwingt, werden Abweichungen von der Norm unreflektiert polemisch als Krankheit definiert und als Instrumente verbaler Ausgrenzung verwendet.

So wird jeder, der sich dem Druck ständiger Verfügbarkeit entzieht, als "Autist" bezeichnet, jedes nicht eindeutige Verhalten als "schizophren", jede Marotte als "psychisch gestört" und Menschen, die auf ihrer Unangepasstheit verharren als "borderline". Die von einer Erkrankung des Nervensystems tatsächlich Betroffenen werden als Soziopathen diffamiert.

Die Gleichsetzungen von gesund mit leistungsfähig und daher wertvoll, und im Gegenzug dazu: unangepasst mit psychisch krank und nutzlos, sogar potenziell kriminell, gehörten allerdings bereits zu den Denkmustern des Nationalsozialismus. (DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.10.2007)