Ohne Politik gehe es eigentlich am besten, beliebt man in der Ukraine zu scherzen. Die Bürger haben sich offenbar darauf eingestellt, dass im Land zwei Welten parallel existieren. Einerseits die politischen Machtverhältnisse, die keine tragfähigen Mehrheiten zulassen. Auf der anderen Seite entwickelt sich die Wirtschaft mit atemberaubender Geschwindigkeit. Schon vor der Orangen Revolution lag das Wirtschaftswachstum bei zwölf Prozent. Nach einem Einbruch 2005 zog es 2006 wieder auf 7,1 Prozent an. Dieses immer noch hohe Niveau könnte laut ukrainischer Investmentgesellschaft Dragon Capital bis Ende 2008 anhalten.

Wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) analysierte, hat das Wachstum alle Branchen erreicht. Vor allem Dienstleistungen, die vom steigenden Privatkonsum und den günstigen Exportbedingungen für Metalle profitieren. Letztere machen 40 Prozent des Exports aus; die Rohstoffpreise spülten gutes Geld ins Land. Und wie in einem Bericht des Oxford Institute for Energy Studies festgehalten wird, hat die Ukraine die gestiegenen Gaspreise aus Russland besser verdaut, als zu erwarten war.

Die Hälfte des Lohns für Lebensmittel

Dass das Geld nicht nach unten durchsickert, ist die zweite Seite der Medaille. Laut staatlichem Statistikamt hatte 2006 die Hälfte der Familien monatlich nur 480 Griwna (70 Euro) pro Person zur Verfügung. Die Hälfte davon geht für Lebensmittel drauf, während im Westen der Wert teilweise nur zehn Prozent beträgt. 30 Prozent der Ukrainer leben unter der Armutsgrenze. Nur 20 Prozent verdienten mehr als 720 Griwna (103 Euro).

Laut OECD machen verschiedene Pensionen rekordverdächtige 14 Prozent des BIPs aus. Die Steuerlast wuchs auf 80 verschiedene Steuern.

Von allen Experten wird das Stocken der Reformen kritisiert. Privatisierungen wurden gestoppt; 48 Prozent des ukrainischen Kapitals befindet sich in der Hand des Staates, viele veraltete Betriebe verschlingen große Ressourcen. Und was Bürokratie und Korruption betrifft, wurde das Beispiel bekannt, wonach für einen Hotelbau in Kiew 600 Unterschriften einzuholen waren.

Die Experten der OECD warnen, dass die Versäumnisse weitaus stärker zu spüren werden, wenn erst mal die günstigen äußeren Bedingungen für das Wachstum wegfallen. Das "einfache" Wachstum durch Arbeitsplatzkürzungen habe ein Ablaufdatum. Russland werde die Gaspreise erhöhen. Und die Auslandsinvestitionen, die 2005 mit 372 Dollar pro Kopf nur 16 Prozent der Werte im benachbarten Polen ausmachten, würden nur strömen, wenn Investitionssicherheit bestehe, Reformen umgesetzt würden und die einheimischen Unternehmer stärker investieren.

Kein Budget 2008

Der Ball liegt bei der Politik. Von dort kamen die letzten Tage wenig erfreuliche Signale: Die Koalitionsbildung könnte sich hinziehen, sodass kein Budget für 2008 zustande kommt. Und Revolutionsikone Julia Timoschenko hat dem Großbusiness in der Ostukraine - wie schon 2005 - mit Reprivatisierungen gedroht. Die Antwort der Wirtschaft folgte auf den Fuß: Wenn es soweit kommt, werde man Investitionspläne revidieren und keinen Dollar investieren. Das Patt geht weiter. (Eduard Steiner aus Moskau, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7.10.2007)