Arno Geiger sucht Verbindungen zwischen Geschichte und Augenblick. Eine Spurensuche in Wolfurt, wo er Kind war

Die Maschen des Netzes werden weiter, gerissene Verbindungen hinterlassen Löcher. Ein Besuch bei einem Ringerturnier im vorarlbergerischen Wolfurt, das den Autor an seine als sehr körperlich empfundene Herkunft erinnert.

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Ich besuche ein Ringerturnier in meinem Heimatort, um mich meiner als sehr körperlich empfundenen Herkunft zu vergewissern. Von Berufs wegen vorsichtig gehe ich an die Sache heran: Ich bin, wie man so schön sagt, erwachsen genug, um zu wissen, dass man die eigene Kindheit betrachten soll, wie die Chinesen etwas betrachten: durch schmale Augen.

Ein Schreibmaschinenbesitzer, einer der nicht auf Masse, sondern auf Substanz gewogen wird: Milchgesichtig - mit schmalen Augen - sitze ich in der Hofsteigsporthalle, das Futter der Erinnerung wiederkäuend, in dieser noch unlängst von Wiederkäuern geprägten Landschaft. Ich betrachte Buben und Mädchen bei einem körperlichen Zweikampf - und betrachte gleichzeitig mich selbst, in diesem seltsamen Geisteszustand, in dem sich gegenwärtige Eindrücke mit alten Bildern und Reflexionen vermischen.

Dörfer haben ihren eigenen Charakter. In Ungarn steigt man aus dem Bus, es riecht nach Schweinen. Früher roch es in Wolfurt nach Kühen. Tempi passati. Wenn ich das Wort Widmung höre, denke ich üblicherweise an Bücher. In Wolfurt hingegen denke ich an Grundstücke. Um-Widmung ist das, was den Charakter des Dorfes verändert hat. Von landwirtschaftlich genutzter Fläche zu Baugrund.

Vertraute Landschaft

In den hoch gelegenen Fenstern der Sporthalle sieht man Ausschnitte der mir von Kind auf vertrauten Landschaft, wo der Bodensee und die Alpen hinwegtrösten sollen über die Sünden der Raumplanung. Dort draußen gibt es einige Flüsse, viele Straßen, eine Autobahn. Schief stehende Obstbäume, an deren bemooster Seite man sehen kann, wo Westen ist, woher das Wetter kommt. Den Gesamteindruck dominieren die unzähligen und immer zahlreicher werdenden Häuser, auf Sicherheitsabstand zueinander wie die Nester einer Kormorankolonie. Die Nester einer Kormorankolonie wirken, als wären sie symmetrisch angeordnet, weil die Entfernung eines Nestes zum anderen sich aus der Reichweite eines Schnabels ergibt. Der Abstand der Nester ist so, dass ein brütender Kormoran den anderen nicht hacken kann. Man hackt sich trotzdem. Ein Kind läuft mit seinem Schulranzen die Oberfeldgasse entlang, ein schwarzer Hund trottet hinterher. Im Garten niest zaghaft ein alter Mann, das ist mein Vater.

Unaufhaltsamer Verfall

Mit Ende dreißig hat man noch eine gewisse Erwartung in die eigene körperlicher Attraktivität und Leistungsfähigkeit. Doch irgendwann tritt an deren Stelle das simple Interesse an physischer Gesundheit angesichts des drohenden Verfalls. Die kindliche Beschäftigung mit dem Zugewinn an Kraft geht über in den Stolz, kräftig zu sein, und mündet in die Betrachtung des unaufhaltsamen Verfalls. Vielleicht ist es ein bloßes Verwechseln des Dorfes mit mir selbst, wenn ich sage, dass auch das Dorf diesen Weg beschreitet. Ein meist willkürlich anmutendes Konglomerat aus Straßen, neuen und alten Gebäuden, Industrieanlagen, Parkplätzen und Gartenzäunen. Nicht sehr ansehnlich das Ganze. - Die meisten Städte werden schöner mit den Jahrhunderten, man kann ihnen zum tausendsten Geburtstag von Herzen gratulieren. Die meisten Dörfer werden hässlich.

"Aber das ist doch überhaupt kein Dorf!", sagt die mich begleitende ungarische Fotografin. Anfangs widerwillig, aber letztlich doch, stimme ich ihr zu. Objektiv betrachtet schaut es aus wie eine Vorstadt, das ganze Rheintal eine Vorstadt, nur dass das Zentrum nie kommen wird. Somit muss es mich auch nicht wundern, dass mein Vater den Ort, an dem er seit mehr als achtzig Jahren lebt, nicht mehr erkennt. - Manchmal, wenn wir mit dem Auto durch den Ort fahren, fragt er mich: "Wo sind wir?" "In Wolfurt." "Wolfurt? Das kann ich mir schwer vorstellen."

Selbst hier vereinigen sich die Erinnerungslücken meines Vaters zum Erinnerungsverlust. Das Dorf erweist sich als nichts zwingend Unverwechselbares und stattdessen als etwas Äußerliches und Austauschbares. Unlängst antwortete mir mein Vater auf die Frage, ob die Möbel im Wohnzimmer nicht aussehen wie seine eigenen Möbel: "Doch, aber andere Leute können auch solche Möbel besitzen." Und jetzt füge ich für mich hinzu: "Auch andere Leute haben solche Dörfer."

Ohne großes Procedere

261 Ringer und Ringerinnen aus acht Ländern marschieren in einer kurzen Zeremonie und ohne großes Procedere in die Halle ein. Der Vereinsobmann wünscht über die Lautsprecheranlage einen verletzungsfreien Verlauf des Turniers. Er begrüßt die Honoratioren, er bezeichnet die drei Matten, auf denen die Kämpfe ausgetragen werden. Dann geht es auch schon los. Zwei Mädchen in Trikots kommen den Gang herauf, dass man denkt, die Türen vor ihnen springen von selbst auf, zwei kleine, harte Körper.

Ich weiß nicht, wie viele Kartoffeln ich meiner Mutter aus dem Keller klaute, nachdem im Fernsehen Der Seewolf gelaufen war. Ein Akt roher Gewalt an einer rohen Kartoffel - verübt mit bloßer Hand. Ob die Kartoffel nicht doch gekocht war? Diese Frage beschäftigte meine Fantasie tage- und wochenlang. Und so mag es zwar stimmen, dass sich auch um die Klugheit Legenden bilden und dass auch die Klugheit zu den großen Mythen gehört, mit denen man Kinder verführen kann. Aber das oft gehörte "Iss, dann wirst du groß und stark" hinterließ bei mir den tieferen Eindruck.

Das Reden kam beiläufig, das Denken wurde in der Kindheit kaum thematisiert, es sei denn, wenn ein Unfug, den man angestellt hatte, mit der Frage kommentiert wurde: »Denkt ihr euch eigentlich etwas dabei?« Ich entsinne mich nicht, dass ich selbst oder irgendwer um mein Denken sonderlich bemüht gewesen wäre. Weder wurden wir früh mit ich weiß nicht was für Bildung ausstaffiert, noch galt das Lesen, obwohl es als Inbegriff der Tagedieberei vom Fernsehen bereits abgelöst war, als gern gesehene Tätigkeit. Reste von Skepsis dagegen hatten sich im kollektiven Bewusstsein gehalten, und so war das Körperliche während dieser Jahre das einzig Reale und Substanzielle in meiner kindlichen Welt; der Geist wurde einem ohnehin regelmäßig abgestritten.

Schuh im Schraubstock

An das Interesse, das ich an meinen physischen Fähigkeiten hatte, erinnere ich mich sehr gut. Ich weiß, dass ich mich in meinem Laufstall (sagte man wirklich so?) aufrichtete und von Stange zu Stange hantelte, mit großer Anstrengung und großer Freude. Und ich erinnere mich, dass ich einige Jahre später einen Schuh in den Schraubstock meines Vaters spannte und das Schuhebinden übte. Ich wollte im Kindergarten nicht zu den Kindern gehören, die erst dann nach Hause gehen konnten, nachdem die Tante (ja, man sagte so) einem beim Ankleiden behilflich gewesen war. In den eigenhändig zugebundenen Schuhen rannte ich über die heute verbauten Felder nach Hause.

Ich stehe mit einem ehemaligen Vorstand des Wolfurter Ringerclubs am Geländer über der Tribüne und beobachte mit ihm die Wettkämpfe. Der Mann war jahrzehntelang ehrenamtlich im Verein tätig. Er sagt: "Es gab sensible Buben, die forderte ich auf, für ihre Mutter und für mich zu kämpfen. Und ich hatte solche, die musste ich zusammenschreien, damit sie in die richtige Kampfstimmung kamen." Er schaut hinunter auf das so genannte Kampfgeschehen und sagt: "Manche konnte man mit Essen ködern, denen versprach ich im Fall eines Sieges ein riesiges Schnitzel."

Der Mann ist ein Jahr jünger als mein Vater. Ich weiß, wenn er in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu Wettkämpfen fuhr, ging er mit den Buben des Vereins von der Jugendherberge zum Fleischhacker und sagte: "Würden Sie bitte so nett sein und meine Buben wiegen." - Da der Verein keine exakte Waage besaß, die sich im Kleinbus hätte mitführen lassen, es jedoch von grundlegender Wichtigkeit war, genau zu wissen, wie viel ein jeder wog, stellte der Fleischhacker die Buben auf seine Waage. Mit einem dieser Buben - auch er ist als Zuschauer in der Halle - habe ich als Kind im Sandkasten gespielt, nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich. Seine Frau und ein Kind treten heran, die Frau hat eine durchsichtige Einkaufstasche bei sich, in der mehrere Packungen Milch und mehrere Laibe Brot zu sehen sind. Sie sagt: "Ich habe den Job beim Bauhaus nicht bekommen." Das Kind, das hinter uns am Geländer des Tribünenabgangs steht, fragt zweimal: "Mama, warum hast du den Job beim Bauhaus nicht bekommen?" Die Frau reagiert zunächst nicht. Dann sagt sie: "Weil ich den Job nicht bekommen habe." "Aber warum, Mama! Warum hast du den Job beim Bauhaus nicht bekommen?" Sie atmet tief durch und sagt: "Bitte, lass mich." Dann winkt sie ab und geht davon. Der ehemalige Spielkamerad geht ebenfalls davon, er hat andere Sorgen als meine kruden Erinnerungen. Erinnerungen helfen ihm nicht weiter. Man muss sie sich auch leisten können. Es gibt Menschen, die haben Kinder und eine Frau ohne Job, und es gibt Menschen, die ihr Geld damit verdienen, dass sie Eselsohren glatt streichen und Verbindungslinien zwischen entfernt liegenden Punkten ziehen.

Muskulöse Magerkeit

Der Mattenrichter hat den Kampf freigegeben. Die Körper der Mädchen umfassen einander, die muskulöse Magerkeit im blauen Trikot, und die muskulöse Magerkeit im roten Trikot, das Drängen und das Nachgeben, Angriff und Gegenangriff. Es sieht aus wie etwas zutiefst Gemeinsames, für mich sind sie wie Tanzende, ineinander verschlungen, ein seltsamer Tanz der An- ziehung und Abstoßung. Rot und Blau vermischen sich zu einem Knäuel. Geräusche und Farben, viel Geschehen, viele Menschen, viel Rufen, Schreien, Lachen, Reden, Weinen, ein Trubel, eine schlechte Luft, das Klatschen fallender Körper auf die griffigen Matten, und wieder Lachen und Schreien und eine vormittägliche Wärme, das Trappeln der Beine, das Stöhnen der sich Mühenden, die Stimmen der Betreuer und die Handzeichen der zum Kontrast im dunklen Anzug gekleideten Mattenrichter. Und in der Tiefe des Gehirns umschlingt die Fülle des jetzigen Lebens das Vergangene, wie das Mädchen in Rot das Mädchen in Blau umschlingt.

Ein Haargummi fliegt über die Matte. Weil ich angesprochen werde, drehe ich mich von den Kämpfen weg. In gewisser Weise ist man zu Hause, wo man gekannt wird oder, noch besser, erkannt (im biblischen Sinn). Aber die ehemaligen Nachbarn haben sich in flüchtige Bekannte verwandelt, manche in Fremde, und man weiß nicht recht, was man miteinander reden soll. Am besten etwas Leichtes und Einfaches. Aber was? Ist der Punkt, an dem es noch möglich war, sich mit einigen Sätzen auf den neuesten Stand zu bringen, nicht längst überschritten? - Ja. - Sind die Verbindungslinien nicht gekappt? - Ja. - Die Maschen des Netzes werden weiter, gerissene Verbindungen hinterlassen Löcher. Die Löcher öffnen sich ins Leere. Die Leere verursacht Unsicherheit.

Erneuerung

So empfinde ich es: als destruktiven Vorgang, der sich ganz langsam vollzieht, ein Zerfallen von Zusammenhängen, ein Wenigerwerden von Dingen, die mir ein Anrecht auf Heimat bestätigen könnten. Der Zweck des Orts- und Luftwechsels sei die Erneuerung unseres Lebensgefühls, heißt es im Zauberberg. - Erneuerung jedoch ist ein mehrdeutiger Begriff, der sowohl meinen kann, dass etwas Altes aufgefrischt wird, als auch, dass man das Alte entsorgt. Wenn ich nach Wolfurt komme, gehen diese zwei Varianten der Erneuerung Hand in Hand. Weder ist es nur das eine, noch ist es nur das andere. Rot und Blau. (Arno Geiger, DER STANDARD Printausgabe, 6./7.10.2007)