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"Reisen in der europäischen Literatur": Die britische Schriftstellerin Doris Lessing war Stargast einer Lese-Reihe im Wiener Radiokulturhaus. Auch mit Richard Reichensperger sprach sie über ihre Kindheit und Fremdheit in Rhodesien.


Wien - Sie hat Generationen von Frauen zum Ausdruck eines neuen Selbstbewußtseins verholfen. Und es damit den männlichen Freunden dieser Frauen naturgemäß und gottlob schwer gemacht: The Golden Note Book (1962), die fünf Children of Violence-Romane (1962-1965) ihre politischen Interventionen und zuletzt ihre Autobiographie haben sie zum Weltstar gemacht: Doris Lessing wurde 1919 in Persien geboren, als Tochter eines britischen Bankbeamten, der sich aber zum Farmer berufen fühlte, weshalb er schließlich seine Frau und seine Tochter ab 1924 nach Südrhodesien verfrachtete.

So wurde der Kontakt und Konflikt unterschiedlicher Kulturen (in politischer, soziologischer und geschlechtlicher Hinsicht) schon von vornherein und biographisch zu Doris Lessings Hauptthema. Naheliegend war es deshalb auch, sie zu einer Veranstaltung unter den Leitthemen "Reisen" und "Europa" nach Wien einzuladen, wo sie am Freitag eine Lesung im Wiener Radiokulturhaus gab. Im Gespräch führte Doris Lessing Linien ihrer Biographie mit solchen ihres Schreibens zusammen:

STANDARD: Sie sind in Wien insofern am richtigen Ort, als "Gewalt" ja das zentrale Thema Ihres Werkes ist. Ihre Autobiographie etwa ist voll mit Beobachtungen subtiler Gewalt, nicht nur der Weissen gegenüber Schwarzen, von Männern gegenüber Frauen, sondern auch von Eltern gegen Kinder.

Lessing: Es empört mich, daß dieses Thema fast ausschließlich auf "sexuelle Gewalt" eingeschränkt wird. Sicher gibt es viele Kindesmißhandlungen, doch man müßte viel stärker von den subtileren Formen sprechen, in denen Erwachsene ihre Kinder vergewaltigen.

STANDARD: Indem sie ihnen ihre Erfolgsvorstellungen aufzwingen?

Lessing: Auch. Aber auch durch die Gleichgültigkeit. Wir etwa waren als Kinder viel zu stark beaufsichtigt; Kinder jetzt aber finden oft zuwenig Zuwendung, gelten bloß als Störfaktoren, selbst in weiblichen Lebensläufen. Ein anderes Beispiel: Die subtile Gewalt, denen Außenseiter in Schulen und später durch "mobbing" ausgesetzt sind. Als ich 1949 nach England zog, wäre das noch unmöglich gewesen.

STANDARD: Ihre Mutter war in diesen Techniken - wie viele Mütter gegenüber Töchtern -aber auch schon nicht ganz ungeschickt. Sie aber konnten sich wehren, auch hassen und kämpfen. Woher kommt eigentlich dieses frühe Selbstbewußtsein?

Lessing: Ich haßte meine Mutter nicht. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre die ideale, gutbürgerliche Frau für einen Arzt in England gewesen. Mein Vater aber war doch sehr unkonventionell.

STANDARD: Der Leitsatz Ihrer frühen Jahre scheint "I do not want it" gewesen zu sein.

Lessing: Ich wußte sehr genau, was ich nicht wollte. Das Leben in Rhodesien damals war auch für die Weissen sehr armselig. Wir wohnten in einer Hütte, doch meine Mutter hing Vorhänge von Libertys auf und war empört, daß der schwarze Diener das Silberbesteck nicht richtig anordnete. Das wiederum empörte meinen Vater. Man vergißt, wie unglaublich primitiv das Leben auch der Weißen damals in Afrika war. Gleichzeitig war die Abtrennung von den Schwarzen absolut.

STANDARD: Weshalb Sie sich früh der Kommunistischen Partei anschlossen, für die Rassentrennung absurd erschien. Eines der Notizhefte Ihrer Heldin Anna in "The Golden Note Book" überträgt diese frühe Erfahrung von Solidaridät in das Nachkriegsengland.

Lessing: Doch das England von jetzt ist anders. Kälter und unhöflich.

STANDARD: Sie wußten genau, wogegen Sie anrennen wollten, gegen welche Wand. Jetzt aber weichen Wände immer zurück wie Fernsehbilder.

Lessing: Meine Individualität bildete sich durch Lesen. Ich las wie wild - erstaunlich, wie meine Mutter so viele englische Bücher importieren konnte. Kistenweise, englische und amerikanische Literatur. Lesen war zentral. Menschen jetzt aber suchen immer Gruppen. Und Ablenkung. Dabei sehen sie gar nicht mehr die alltägliche Gewalt. Es ist doch ein Wahnsinn, jemanden verzweifelt weinen zu sehen. Und wir tun nichts dagegen. Das erstaunt mich. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.11.1998)