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1. Juni 2007: Nachdem in Xianmen Tausende gegen den geplanten Bau einer Chemiefabrik auf die Straße gingen, stoppte die chinesische Regierung das umstrittene Großprojekt.

Foto: AP /Color China Photo
Xiamen - Eine "harmonische Gesellschaft" solle China haben, propagiert Staats- und Parteichef Hu Jintao auf dem XVII. Parteitag der Kommunisten in Peking. Zu spüren ist im bevölkerungsreichsten Land der Welt allerdings wenig von staatstreuer Harmonie, wie sie Hu sich vorstellt. Angesichts des rasanten Wandels von einer landwirtschaftlich geprägten zu einer zunehmend industrialisierten und - allerdings nur teilweise - finanziell gut gestellten Gesellschaft sieht sich die Kommunistische Partei Veränderungen gegenüber, die bei vielen Chinesen Verärgerung hervorrufen.

Einig zeigte sich beispielsweise die Bevölkerung in der Hafenstadt Xiamen im Juni, als Tausende gegen den geplanten Bau einer Chemiefabrik auf die Straße gingen. Sie demonstrierten gegen Großprojekt - und hatten Erfolg: Die Regierung stoppte den Bau, zumindest vorübergehend. Die Protestwelle gegen die Behörden wurde zu einem Symbol für die Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer politischen Führung.

Enorme Einkommensunterschiede

"Bauern haben ihr Land verloren, Arbeiter in staatlichen Betrieben sind entlassen worden, Menschen am untersten Ende der Gesellschaft kämpfen täglich ums Überleben, es gibt einen enormen Unterschied beim Einkommen, und es gibt viel Gewalt", sagt Ai Xiaoming, eine Professorin an der Sun-Yat-Sen-Universität. "Es gibt Anzeichen für eine disharmonische Gesellschaft", betont die Rechtsexpertin in Guangzhou (Kanton) in der Provinz Guangdong, wo steigende Grundstückspreise zu Streits zwischen Bauern und Bauunternehmern geführt haben.

Die Spannungen stellen die autoritäre Führung in Peking vor Probleme, vor allem Parteichef Hu: Seit seinem Amtsantritt vor fünf Jahren hat er eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes, den das rasante Wirtschaftswachstum zur Folge hatte, zur Priorität erklärt. Die Regierung werde keine Mühen scheuen, um den Menschen zu ermöglichen, "in Harmonie miteinander zu leben", kündigte Hu bei der Eröffnung des Parteitags in Peking erneut an. Die klaffende Einkommensschere in der Bevölkerung ist allerdings nicht zu übersehen.

87.000 "Zwischenfälle"

Milliarden hat Peking eingeplant, um Bauern weiter zu subventionieren und mehr für soziale Sicherung, Bildung und medizinische Versorgung auszugeben. Und medienwirksam bemüht man sich, gegen die massive Korruption vorzugehen. Die sozialen Spannungen sind jedoch nicht so einfach in den Griff zu bekommen. Das Ministerium für Staatssicherheit zählte im Jahr 2005 insgesamt 87.000 Zwischenfälle, an denen Menschenmengen beteiligt waren, darunter einen tödlichen Streit zwischen Polizisten und Dorfbewohnern wegen der Beschlagnahmung von Land für ein Kraftwerk. Erst im September protestierten tausende ehemalige Soldaten in Ausbildungszentren der Eisenbahn in mindestens drei Städten.

Dazu kommt die aufstrebende Mittelklasse, die sich immer mehr ihrer Rechte bewusst wird. "Das Gefühl der Leute dafür, ihre Rechte zu sichern, erwacht", schrieb der Kolumnist Wen Yunchao in der Zeitung "Nanfang Dushi Bao" nach den Protesten in Xiamen. "Ich werde jeden ohrfeigen, der sagt, das heutige China sei harmonisch."

Tödliche Chemikalie

In Xiamen trieb die Menschen die Angst vor der Chemikalie Paraxylen auf die Straßen, die bei dauerhaftem Kontakt tödlich wirken kann. Die Behörden hätten ihnen Einzelheiten zum geplanten Bau der Anlage verschwiegen und sich erst geäußert, nachdem im März Einzelheiten durchzusickern begonnen hätten, kritisierten Bewohner. Über Internet und SMS formierte sich der Protest gegen das Projekt. "Ich hatte das Gefühl, dass wir etwas ändern könnten, wenn jeder hingeht", sagt ein 32 Jahre alter Einwohner, der seinen Namen aus Angst vor Repressalien nicht nennen möchte. "Ich hätte mich geschämt, wenn ich mich nicht getraut hätte, an dem Protestmarsch teilzunehmen." Die Umweltbehörde hat nun zumindest eine neue Untersuchung angekündigt - und viele Wohnungen in der Nähe des Bauplatzes stehen leer, die Immobilienpreise sind in den Keller gestürzt.

Mit seinem Ruf nach Harmonie in der Gesellschaft versuche Hu Jintao offenbar mit den wachsenden Erwartungen der Gesellschaft zu jonglieren, sagen Experten: Indem er Forderungen nach besseren Lebensstandards nachkomme, verhindere er zugleich jede Chance auf wirklichen politischen Wechsel. "Das beinhaltet überhaupt keinen tatsächlichen demokratischen Wandel", sagt Steve Tsang von der Universität Oxford. "Wenn überhaupt, kommt es der Notwendigkeit politischer Reformen zuvor." (Audra Ang/AP)