Der EGMR hat genug zu tun. In ganz Europa werden Menschenrechte verletzt, einen unrühmlichen Spitzenplatz hat die Türkei inne.

Selbst wenn in den kommenden zehn Jahren keine einzige Menschenrechtsverletzung in ganz Europa passieren würde und somit auch keine einzige Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingebracht würde – der Gerichtshof hätte dennoch genug zu tun. 104.150 Verfahren sind mit Stichtag 1. Oktober 2007 anhängig. Davon laufen 840 gegen Österreich. Das ist zwar weit von negativen „Spitzenwerten“ entfernt, richtig vorbildlich ist es aber genau so wenig. Gemessen an der Einwohnerzahl sei die Menge der Verfahren hoch, betonen Juristen immer wieder. „Das ist tatsächlich ganz schön viel“, bestätigt auch Verfassungsgerichtshof-Richter Christoph Grabenwarter.

Russland: Fast ein Viertel aller Fälle

Aber natürlich ist die Zahl geradezu winzig, verglichen mit den Klags- und Verurteilungsraten anderer europäischer Länder: 2006 ergingen zum Beispiel 312 Urteile gegen die Türkei, in denen zumindest eine Konventionsverletzung festgestellt wurde. In der Langzeitwertung „führt“ Russland weit vor allen anderen Ländern: Nämlich mit rund 23 Prozent der „pending cases“ – also fast 25.000 anhängigen Fällen. Viele davon betreffen das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Freiheit und Sicherheit und das Recht auf Schutz des Eigentums. Danach folgen Rumänien mit 12.300 Verfahren, die Türkei mit fast zehntausend und die Ukraine mit 8.800.

Vor allem nach Artikel 10 EMRK (Meinungsfreiheit) und Artikel 6 (Faires Verfahren) wird hingegen Österreich immer wieder verurteilt. Immer mehr müssen sich auch die nationalen Gerichte mit der Frage befassen: Was ist grundrechtskonform? Ist ein Gesetz grundrechtswidrig? Besteht Handlungsbedarf? Damit sind die Richter gefordert, neben dem österreichischen auch das internationale Recht im Blick zu behalten – eine Herausforderung, aus deren Anlass die Präsidentin des OGH, Irmgard Griss, zu einer Fortbildungsveranstaltung in den Justizpalast lud. „Grundrechte sind ein richtiges Modethema, könnte man meinen“, schmunzelte Griss. Tatsächlich seien die Gerichte aber seit Jahren Experten auf dem Gebiet: „Sie haben sich daran gewöhnt, in sensiblen Bereichen immer die Grundrechte im Blickwinkel zu haben“, ist die OGH-Präsidentin überzeugt.

Signale aus Strassburg werden umgesetzt

„Die hohe Verurteilungsrate in Strassburg ist ein Gerücht“, konterte hingegen OGH-Richter Georg Kodek die immer wiederkehrenden Warnungen seiner Kollegen. Es gebe zwar im Detail der täglichen Rechtsanwendung in Österreich „Verfeinerungs- und Verbesserungsmöglichkeiten“, aber kein „strukturelles Defizit“. Vielmehr bemühe man sich, die „Signale aus Strassburg“ im Menschenrechtsbereich umzusetzen.

Um den Grundrechtsschutz zu perfektionieren, wird immer wieder über eine Verfassungs- oder Gesetzesbeschwerde nachgedacht, wie sie etwa in Deutschland bereits existiert. Damit wären BürgerInnen nicht mehr darauf angewiesen, dass ein Gericht beim VfGH um Aufhebung eines Gesetzes ansucht. Sie könnten sich selber ans Höchstgericht wenden. Diese Art der Beschwerde könnte in gar nicht so weiter Ferne liegen: Von der Staatsreformkommission eingebracht, läuft gerade die Begutachtungsfrist. Allerdings hat die Gesetzesbeschwerde nicht nur Befürworter: „Jede zusätzliche Schreibkraft ist ein größerer Gewinn für den Rechtsschutz als eine weitere Instanz“, meint etwa OGH-Richter Kodek. (Anita Zielina, derStandard.at, 17.10.2007)