Wirtschaftsforscher Karl Aiginger: "Das österreichische Bildungssystem wird von Unternehmen als positiv betrachtet. Aber es stößt an Grenzen, weil sich die Umwelt verändert."

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Die Fragen stellte Leo Szemeliker.

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STANDARD: Vor genau einem Jahr hat das Wifo sein "Weißbuch" vorgelegt, eine Strategie mit Empfehlungen an die Politik, für mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Hat die Politik mittlerweile etwas weitergebracht?

Aiginger: Es gibt viele gute Ansätze. Aber das Reformtempo ist ungenügend.

STANDARD: Sie haben für heuer einen "Kick-start" gefordert. Ist der ausreichend passiert?

Aiginger: Der hat funktioniert, die Beschäftigung steigt. Weil die Konjunktur gut war. Wirtschaftspolitik war dabei gar nicht notwendig.

STANDARD: Sie haben stets darauf bestanden, dass man die Lohnnebenkosten spürbar senkt. Nun ist zuletzt mit den Beitragserhöhungen zur Sozialversicherung das Gegenteil passiert.

Aiginger: Es ist zu bedauern, dass eine Senkung auf die Steuerreform 2010 verschoben worden ist. Sie ist aber nicht mehr so dringlich, denn die Beschäftigung bei Niedrigqualifizierten ist dank Konjunktur angesprungen.

STANDARD: Die Regierung will 2008 eine Arbeitslosenquote von weniger als vier Prozent nach Eurostat erreichen. Das wäre dann "Vollbeschäftigung". Derzeit liegen wir bei 4,2 Prozent. Reicht das Wachstum nächstes Jahr?

Aiginger: Bei 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum ist bei der Arbeitslosigkeit Stillstand. In den vergangenen zwei Jahren sind 112.000 neue Arbeitsplätze entstanden, und davon wurde nur ein Viertel aus der offiziellen Arbeitslosigkeit besetzt. Wir sind weniger optimistisch als die Regierung. Aber selbst wenn man 3,9 Prozent erreicht, heißt das noch nicht, dass das Problem gelöst ist. Es gibt viele Nischen – die Entmutigten, die Älteren, die Frauen, die nach einer Kinderpause nicht zurückfinden, die Studenten, die nur Praktika angeboten bekommen, die 55-Jährigen, die gekündigt werden und absolut nichts mehr finden.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Anstrengungen der Sozialpartner? Die liefern ein Paket nach dem anderen ab, wenngleich die Regierung nicht alle gleich begeistert aufnimmt.

Aiginger: Im Arbeitsmarktbereich hat sich am meisten getan. Am Steuer des Reformprozesses stehen die Sozialpartner. Sie schließen Kompromisse, wobei jeder auf etwas verzichtet, um insgesamt vorwärtszukommen.

STANDARD: Mit dem Lehrlingspaket sind die Sozialpartner nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Die Gießkanne für alle Betriebe wollen Teile der ÖVP gar nicht gern aufgeben.

Aiginger: Die Richtung stimmt: mehr Qualität, besseres Auffangnetz. Die Ausbildungsgarantie bis 18 Jahre, wenn sie durchgesetzt wird, wäre etwas wirklich Tolles. Es ist nicht alles ausfinanziert, und die Sozialpartner waren bemüht und haben Vorschläge gemacht. Dieser Finanzierungsvorschlag (Wiedereinführung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer ab dem 56. Lebensjahr, Anm.) ist jedoch problematisch. Ein Kompromiss wäre: Die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge tritt nur dann ein, wenn man den Arbeitsplatz verloren hat.

STANDARD: Das war ohnehin immer Vorschlag der Sozialpartner, sie wurden nur nicht gehört, die Politik hat das gleich einmal abgelehnt – weil zu unpopulär bei treuen Wählerschichten.

Aiginger: Das ist eine ewige Diskussion in der Ökonomie: Macht man etwas für alle, gibt es Mitnahmeeffekte. Oder für eine Teilgruppe, dann wird getrickst. Das haben wir bei der Investitionszusatzprämie gehabt, und auch beim Blum-Bonus – beide sollten nur für mehr Investitionen oder Lehrlinge gelten. Das könnte auch hier passieren: Ein Betrieb könnte jemanden entlassen, dann bei einem Bruderbetrieb anstellen, schon wären die Beiträge niedriger. Wir würden aber trotzdem anregen, dass man die billigere, gezieltere Lösung versucht.

STANDARD: Was sagen Sie zur Facharbeiterverordnung, die 50 Berufe für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Mitgliedern öffnet?

Aiginger: Ich halte die Lösung mit der Stellenandrangsquote für genial. Man kann der EU-Kommission ab 2009 besser gegenüber argumentieren, dass das keine Willkür war. Wir können Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt mit dieser Quote (wie viele Jobsuchende kommen auf eine offene Stelle, Anm.) genau definieren. Heute gibt es hier eine Rationalität, die es vor einem Jahr so nicht da war.

STANDARD: Die Menschen in den Betrieben haben derzeit nicht wirklich das Gefühl, viel von den Fortschritten der Wirtschaft zu haben.

Aiginger: Die Löhne sind seit 1990 gestiegen, zwar nicht so stark wie die Wirtschaftsleistung. Es ist ein großer Teil von Niedriglöhnen dazu gekommen: Ausländer, Jugendliche, Teilzeit – und so sinkt der durchschnittliche Lohn. Das heißt nicht, dass die Haushalte ärmer geworden sind oder jemand in seinem Job keine Lohnsteigerung hat.

STANDARD: Aber die Lohnquote sinkt.

Aiginger: Das war anfangs eine gute Entwicklung, weil die Unternehmen ihre Bilanz korrigieren konnten und eine bessere Eigenkapitaldecke bekommen haben – für die Internationalisierung. Ich glaube aber, dass es jetzt möglich wäre den Konjunkturzyklus zu verlängern, wenn es relativ gute Lohnabschlüsse gibt.

STANDARD: Ich weiß, Sie würden nie Prozentsätze während laufender Lohnverhandlungen nennen. Aber was sollten die Kollektivvertragsverhandler beachten?

Aiginger: Das Problem bei der Lohnbildung ist, dass die Unternehmen in sehr unterschiedlichen Gewinnsituationen sind. Aus dem Grund wäre es gut, wenn die kollektivvertragliche Vereinbarung auch ein Element enthält, das nach Gewinnhöhe unterschiedlich ist – zusätzlich zur betrieblichen Direktverhandlung. Das ist man in Österreich nicht gewohnt. Ich plädiere außerdem dafür, dass man auch über Weiterbildung und Standortvorteile spricht – etwa die Beteiligung an Lehrwerkstätten oder Kindergärten. Hier gäbe es Spielraum.

STANDARD: Was sagen Sie zur aktuellen Bildungsdebatte?

Aiginger: Das österreichische Bildungssystem wird von Unternehmen als positiv betrachtet. Aber es stößt an Grenzen, weil sich die Umwelt verändert. Die Bedeutung der Eltern für den Bildungsweg ist außerdem in Österreich immer größer gewesen als in allen anderen Ländern. Ich sage meinen Studenten immer: Sagts mir, aus welchem Ort jemand kommt, ob er männlich oder weiblich ist und was der Vater war, und ich sage euch, was er oder sie heute arbeitet. Das ist seit vierzig Jahren unverändert.

STANDARD: Wie sinnvoll sind Sprachtests für Fünfjährige?

Aiginger: Bisher war der Kindergarten reine Betreuung, man muss ihn aber ein bisschen zu einer Bildungseinrichtung machen – nicht nur für Migranten, auch für Österreicher. Die Lösung – ein Sprachtest mit viereinhalb Jahren ohne wirkliche Verpflichtungen – ist ungenügend, wird nicht funktionieren. Es sollte höchstens Opting-out-Klauseln aus der generellen Verpflichtung geben, ab fünf Jahren in den Kindergarten zu gehen. Aber als Ökonom muss man auch verstehen, was passiert– die Leute im Waldviertel fragen sich: Warum soll ich mein Kind in den Kindergarten geben müssen, weil in Favoriten die Integration nicht funktioniert?

STANDARD: Was sind eigentlich die Hauptrisiken für den Standort Österreich derzeit?

Aiginger: Die Nichtintegration der Migranten und das zu geringe Bewusstsein, dass man im Forschungsbereich mehr machen muss – sowohl mehr Geld wie auch mehr Effizienz. Die Hochschulen haben zu wenige Mittel. Und die Mittel werden noch immer viel zu viel ohne Leistungskontrolle vergeben. Wenn wir drei Prozent Forschungsquote haben wollen, brauchen wir viel mehr Wissenschafter als jetzt – vor allem in den Naturwissenschaften. Zu einer Forschungsstrategie gehört auch eine Basis an Humankapital, und die fehlt eindeutig. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21.10.2007)