Wer heute "dokumentarisch" reüssieren und weitere Filme finanzieren will, muss meist der Logik eingängiger medialer Schlagzeilen zuarbeiten. Das heißt: Alltag zum Beispiel wird erst dann erzählerisch interessant, wenn sich Besonderes, um nicht zu sagen: Ungeheuerliches ereignet. Dass den griffigen Thesen, die dann meist aufgestellt werden, vieles an Lebenswahrheit zum Opfer fällt, will in Kauf genommen werden.
Angeblich. Der französische Filmemacher Nicolas Philibert ist einer, der diesem Marktdiktat eine Bescheidenheit, gepaart mit höchster filmischer Meisterschaft entgegenhält. Die richtigen Fragen und die richtigen Bilder könnten doch auch angesichts von "gelingendem Leben" bedenkens- und sehenswerte Erkenntnisse zeitigen, meint er - und war damit zuletzt höchst erfolgreich:
Etre et avoir (2002), die Dokumentation eines Jahres in einer Landschule, begeisterte allein in Frankreich über zwei Millionen Besucher, obwohl da nicht mehr passierte, als dass eine kleine Gruppe von Kindern erfolgreich etwas fürs weitere Leben lernt. Wie ist das, wenn so ein Kind über 10, 100, 1000 etc. hinaus die Unendlichkeit zu ahnen beginnt? Menschheitsdramen deuteten sich da quasi nebenher an.
Stille Beben
Und jetzt: Retour en Normandie, Philiberts jüngster Film, in dem das Interesse für "stille" Beben in menschlichen Gemeinschaften noch weiter auf die Spitze getrieben wird. Wie ist das, wenn man sich an einen Ort zurückbegibt, an dem man 30 Jahre zuvor mit anderen Menschen gearbeitet hat? Kann man darüber einem größeren Publikum erzählen - auch wenn René Allios Film Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère, an dem Philibert 1976 als Regieassistent mitwirkte, bestenfalls einer kleineren Cineastengemeinde bekannt ist? Ist es von Interesse zu zeigen, was die Laien, die damals in einer Mordchronik aus dem Jahr 1835 mitwirkten, heute machen - und dass sie immer noch stolz auf den Film sind?
Retour en Normandie, eines der wahren Meisterwerke der letzten Jahre, beweist nichts weniger als die grundsätzliche Deformiertheit solcher Fragen. Natürlich ist Geschichte und sind Erzählungen gerade dann interessant und von Belang, wenn sie über ganz spezifische Arbeit, Leben, Erfahrungen berichten, selbst wenn sie nicht so dramatisch verlaufen wie der Fall des jungen Bauernsohns, der 1835 Mutter, Schwester und Bruder mit einer Sichel tötete, um dann in der Haft seine Beweggründe niederzuschreiben.
Die einstigen Kino-Laiendarsteller, die in Philiberts Film zu Wort kommen, sie sind über diesen Fall vermutlich einmalig mit Abgründen konfrontiert worden, die sie bis heute beschäftigen. Ihr eigenes Leben und ihre Arbeit bewegt sich jedoch in geregelteren Bahnen: Alltag auf Bauernhöfen oder in einem Heim für geistig Behinderte steht Zitaten aus Allios Film gegenüber, in denen sich angesichts der Bilder einer Auslöschung jener Riss manifestiert, den man als Möglichkeit meist ausblendet, um nicht irre zu werden wie Pierre Rivière.
Man sieht: Wie Philibert seinen Film konstruiert, das ist in aller Gleichmütigkeit und Bescheidenheit seiner Gegenüber ziemlich vertrackt. Im Prinzip funktioniert Retour en Normandie wie eine russische Puppe oder eine Zwiebel, bei der man Schale um Schale, Haut um Haut abträgt, um letztlich anstatt bei einem festen Kern bei einem Vielfachen kleinster gemeinsamer Nenner zu landen.
Anfang mit Foucault
Schon die Genealogie des Stoffes von Moi, Pierre Rivière prädestiniert für diese Schichtungen: Anfang der 70er-Jahre hatte ein Team rund um den französischen Philosophen Michel Foucault Rivières Bekenntnisse um eine Kompilation der damaligen Polizei- und Prozess-Protokolle erweitert. Diese wiederum bildeten für René Allio die Grundlage für die Filmdialoge, bei denen schnell klar wurde: Moi, Pierre Rivière sollte, weitgehend von Laien gespielt, möglichst an Originalschauplätzen gedreht werden. Welche Abstriche hier gemacht werden mussten und welche Kürzungen das Produktionsbudget erfuhr: Allein diese Episoden erzählen einiges über den Umgang mit Geschichte im Kino.
Und wenn einstige Darsteller über Begegnungen mit Foucault am Drehort erzählen, dann kann man ahnen, wie sehr es konkreter Arbeit bedarf, um die Grenzen zwischen den Intellektuellen und den (vermeintlich) einfachen Leuten zu überwinden.
Natürlich ist Retour en Normandie alles andere als ein verspätetes Making-of. Wie selbstverständlich und in berechtigtem vollem Vertrauen auf die Kraft der Montage stellt Philibert auch Momente nebeneinander, die auf den ersten Blick nur wenig mit der Erinnerung an die einstigen Dreharbeiten zu tun haben: Stoisch fährt ein Schweineschlächter balancierend auf seinem Fahrrad; ein schwächliches neugeborenes Ferkel wird mit harten Schlägen zurück ins Leben befördert; ein altes Ehepaar leidet darunter, dass die Schizophrenie seiner Tochter unheilbar ist; eine Frau, die vor Jahren nach einem Schlaganfall die Sprache verlor, räsoniert über das Glück, die richtigen Worte zu finden. Oder Lieblingswörter zu haben: "Schokolade!"