Ein schweigsamer Mann und die Landschaft um das Delta des Río de la Plata: Alvaro (Jorge Román) in Santiago Otheguys "La León".

Foto: Viennale
Ein kontemplatives, in Schwarz-Weiß gedrehtes Filmdrama, das seinen Reiz aus Landschaften bezieht.
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Filme, die in Wasserlandschaften spielen, haben von vornherein etwas Einnehmendes. Fast zu nahe liegt dabei die Metaphorik, bei der der Fluss für den Lauf des Lebens einsteht.

Faszinierender schon ist das Rätsel, das aus dem Zusammenspiel von Oberfläche und Tiefe entsteht, von dem, was man sehen kann, und dem, was im Wasser und auf dessen Grund verborgen bleibt. Toll ist meistens auch das langsame Gleiten der Kamera, wenn sie sich von einem Boot aus das Ufer anschaut.

Herausragende Flussfilme sind zum Beispiel Jean Renoirs The River (1951); er handelt von einer britischen Familie, die sich am Ufer eines großen indischen Stromes niedergelassen hat und in der Üppigkeit der Technicolor-Bilder lernen muss, dass das Leben so unabänderlich verstreicht, wie das Wasser flussabwärts fließt.

The Night of the Hunter (1955) von Charles Laughton bezieht seine Reize aus der Unheimlichkeit von Wasserbildern, zum Beispiel daraus, wie schwarz die Wasseroberfläche nachts ist und wie das Haar einer Toten unter Wasser in sanftem Auf und Ab wogt.

Oder Los muertos (2004) von dem jungen argentinischen Regisseur Lisandro Alonso - dieser Film folgt einem gerade aus der Haft entlassenen Mann, der in einem kleinen Boot einen Fluss in Richtung Dschungel hinauffährt, auf der Suche nach seiner Tochter. Los muertos schöpft dabei alle Konnotationen des Flussfahrtsmotivs aus - die Ursprungssuche, den Selbstverlust und den Aufbruch ins Totenreich.

Menschenleer

Auch La León, der Debütfilm von Santiago Otheguy, spielt in Argentinien, im weitläufigen Delta des Río de la Plata. Die Vegetation ist üppig, das Wasser allgegenwärtig, die Häuser stehen auf Stelzen, ihre Wände tragen deutlich die Spuren der Feuchtigkeit. Der Film ist in Schwarz-Weiß gedreht, er lebt weniger von Handlung und Figurenpsychologie als von den Totalen, die menschenleere Landschaften einfangen. Sie dehnen La León ins Kontemplative. Vielleicht tritt Otheguys Kunstwollen dabei ein bisschen zu offensichtlich zutage.

Plansequenzen, der Verzicht auf einen herkömmlichen geradlinigen Plot und die Verknappung der Dialoge bilden schließlich zurzeit eine Art Signatur des Weltkinos; sie sind etwas, was auf Filmfestivals in Europa gut ankommt.

Doch bevor man solche Einwände bis zu ihrem Ende denken mag, hat Otheguy schon die nächste Cinemascope-Aufnahme von Fluss, Nebel und Bäumen am Ufer in seinen Film geschnitten - und gebannt schaut man auf dieses graue, geheimnisvolle Arrangement.

Im Mittelpunkt von La León - der Titel bezieht sich auf das Passagierschiff, das die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellt - steht Alvaro (Jorge Román), ein junger Mann, der von Fischfang und Reetschnitt lebt. Zum Zeitvertreib restauriert er alte Bücher. Einmal begegnet er auf einem Wasserlauf einem jungen Mann. Der hat eine Yacht, Alvaro nur ein Ruderboot, die Blicke der beiden kreuzen sich, das kleine Boot gleitet an der Yacht vorbei, und nach einem harten Schnitt sieht man die entblößten, sich umarmenden Körper der beiden.

Latent liegt Gewalt in vielen Szenen. Zu Beginn erfährt man, dass Alvaros Bruder auf ungeklärte Weise gestorben ist; tiefer im Mangrovenwald leben Indígenas, die die Missgunst des Flussschiffers El Turu (Daniel Valenzuela) auf sich ziehen. In einer Szene begegnen sich El Turu und Alvaro in einer Bar. "Puto", "Schwuchtel", ruft El Turu, während Alvaro ihm ungerührt den Rücken zukehrt.

Unter der Oberfläche

Harsch und hart ist die Szene, weil Otheguy sie dehnt - nicht einmal oder zweimal wütet El Turu, sondern immer wieder. Später stehen Alvaro und El Turu am Rande eines Fußballplatzes und beobachten das Spiel, als sei nichts geschehen. Noch später begreift man, dass unter der machistischen Oberfläche El Turus ein Geheimnis wogt wie Schlingpflanzen unter der Wasseroberfläche. (Cristina Nord, DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.10.2007)