So sieht Erleichterung bei einem Parteitag aus: Da wird wochenlang vorbereitet, gestritten, an Papieren gefeilt, und dann gipfelt all die Anspannung, all das Bemühen in einer einzigen Sekunde - derjenigen, in der der Parteichef das Ergebnis seiner Wiederwahl erfährt. Für SPD-Chef Kurt Beck war es eine gute Sekunde: 95,5 Prozent, das ist sogar mehr als bei seinem Antreten vor eineinhalb Jahren, als sich die SPD an ihn klammerte, weil er ihr letzter Trumpf war.

Sehr viel mehr als auf einem Routineparteitag müssen diese 95,5 Prozent als Gradmesser für die Befindlichkeit der SPD gesehen werden. Denn das Delegierten-Treffen in Hamburg ist ein hochemotionales Meeting. Drei Tage lang verordnet sich die Partei einen neuen Kurs - den Beck für die kränkelnde SPD auserkoren hat. "Beck to the Roots" heißt der scherzhaft in der SPD, zurück zu den Wurzeln also, zu mehr sozialem Profil, zu mehr Herz für die Schwächeren, zu weniger Zumutungen. Denn während die Union dank ihrer umtriebigen Auslandskanzlerin im Umfragenhimmel hoch droben bei 40 Prozent schwebt, dümpelt die SPD bei zum Teil erbärmlichen 25 Prozent herum.

Besserung in Sicht

Doch jetzt, so Becks Kalkül, ist hoffentlich Besserung in Sicht. Die Reformagenda 2010 von Gerhard Schröder, die viele Genossen bis heute nicht verdaut haben, hat Beck aufgeschnürt. Wochenlang stritt die SPD-Spitze über die Frage, ob das Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitslose wieder länger ausbezahlt werden soll als für diejenigen, die nur zwei bis drei Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben. Beck zwang sie auf seine Linie. Er will, dass die SPD wieder stärker für soziale Gerechtigkeit und für die soziale Schwachen steht und nicht für Kürzungen, Streichungen und Einsparungen - all jene Dinge also, die die Wählerinnen und Wähler so ganz und gar nicht goutieren. Zum Schluss hatte er sogar das Okay von Reformvater Schröder bekommen, dem der Verfall seiner Partei vermutlich genauso unheimlich ist wie Beck selbst. Franz Müntefering, wackerer Bewahrer der Reformagenda, musste angesichts der Übermacht aufgeben.

Soziales Wohlfühlklima

Kurzfristig wird es Beck gelingen, mit diesem Schritt und den anderen Zuwendungen, die der Parteitag beschließt, für ein soziales Wohlfühlklima zu sorgen und die darbenden Sozialdemokraten aufzubauen. Doch langfristig spielt Beck ein gefährliches Spiel - dann nämlich, wenn die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere nur der erste Dominostein ist, der fällt. Das ist zu befürchten, denn warum, so fragen sich jetzt schon die Parteilinken, soll beim Arbeitslosengeld I Schluss sein? Sie sehen noch viele Punkte, die der Korrektur bedürfen. So lange, bis Deutschland wieder dort ist, wo es vor der Schröder'schen Reformagenda war: im Kuschel-Sozialstaat, der mehr mit der Gießkanne förderte, als er den Einzelnen forderte. Und darauf hofft offenbar die Partei, anders ist das fulminante Wahlergebnis für Beck nicht zu erklären.

So wohl sich die SPD in Hamburg fühlt, so nervös muss der rote Parteitag die Reformkräfte in der Union machen. Erinnern wir uns kurz an den Dezember 2003. Da beschloss die CDU in Leipzig radikale Reformen - eine Steuerreform mit nur drei Einkommensstufen und eine Kopfpauschale für das Gesundheitswesen. Umgesetzt hat Kanzlerin Angela Merkel nichts davon, denn sie weiß genau, was sie 2005 den ganz großen Wahlsieg mit anschließender Wunschkoalition aus Union und FDP gekostet hat: ihr "neoliberaler" Kurs ohne soziale Wärme. Doch Merkel sieht sich heute noch als große Reformerin. Insofern wird das Begehr der SPD nach längerem Arbeitslosengeld auch sie dazu zwingen, Farbe zu bekennen. Merkel wird zeigen müssen, ob sie zum Dominospiel der SPD bereit ist. Schließlich hat auch die Union Schröders Reformagenda einmal zugestimmt. (Birgit Baumann, DER STANDARD, Printausgabe, 27./28.10.2007)