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Alle Menschen haben das Bedürfnis nach Identität und nach dem Gefühl, mit sich eins zu sein

Foto: dpa/Leonhardt
Es gibt Dinge im Leben, die werden irgendwann einmal erfunden, und schon kommt man ohne sie nicht aus. Der elektrische Strom gehört dazu, das Mobiltelefon, oder der Serotonin-Rezeptor. Mit der Identität verhält es sich ähnlich. Plötzlich war sie da, und schon brauchte sie ein jeder. Dass das mit dem Untergang der Monarchien, mit der Entmachtung Gottes und mit der zunehmenden Mobilität der Menschen zu tun hat, ist eine vermutlich wahre Hypothese der Geschichtsphilosophen und Soziologen. Psychologisch scheint es so zu sein, dass ein Grundbedürfnis des Menschen nach Identität existiert, das heißt, nach dem Gefühl, mit sich selbst eins zu sein und über die Zeit hinweg auch zu bleiben. Die Begriffe, die dieses Gefühl näher erfassen, beginnen alle mit "Ko", was ein Zufall und nicht auf eine infantile Neigung zu Sprachspielen zurückzuführen ist. Kontinuität, Konstanz, Konfliktfähigkeit.

Krieg der Knöpfe

In der ersten Szene des schönsten Filmes, den es über das Kindsein gibt, in Yves Roberts Verfilmung von Louis Pergauds Roman Der Krieg der Knöpfe laufen die heimliche Hauptfigur des Films, der sechsjährige Klein-Gibus, und sein Bruder wild fuchtelnd und schreiend über die Felder, um den Briefträger zu erwischen. Sie wollen ihm Marken der Tuberkulosehilfe verkaufen, aber der Briefträger hat schon welche und flüchtet auf seinem Fahrrad. Er rechnet nicht mit der sozialen Störung der Buben aus Velrans, dem anderen Dorf der Geschichte, sieht sich einem Birkenast gegenüber, der ihm aus einem Hinterhalt heimtückisch vors Vorderrad geschmissen wird, und reißt einen Stern. Klein-Gibus meint empört, es sei Besitzstörung, ihren, den Briefträger aus Longverne, zu Fall zu bringen, und das sei typisch für die Schlappschwänze aus Velrans.

Sich über die Zugehörigkeit zu einem Dorf, über den Besitz eines Briefträgers oder einer Schule samt Lehrer definieren zu können, hat augenscheinlich mit Konstanz zu tun, damit, dass Dinge, Personen, ihre Eigenschaften und Konstellationen so bleiben, wie sie immer waren. Dies entspricht einem prämodernen Konzept von Identität, einem Bogen, der innerhalb der sozialen Struktur der beiden Dörfer transgenerational gespannt wird, ohne dass sich groß was ändert. Die Bauern von Velrans und Longverne waren seit jeher Bauern, der Lehrer wird bleiben, bis er in Pension geht, und die Kinder werden im nächsten Jahr zur selben Zeit wieder Tuberkulosemarken verkaufen.

Rache

Auf Provokation folgt Rache, auf den Unterricht Freizeit, auf eine Schlacht Waffenstillstand. Das nennt man Kontinuität. Die Dinge sind vertraut und berechenbar, sogar die Zornanfälle der Väter. Das wiederum hat mit Konfliktfähigkeit zu tun, selbst in jener tragischen Szene, in der Lebrac, der Anführer der Kinder aus Longverne, die Züchtigung von seinem Vater fordert, weil es doch bisher immer so war und daher gar nicht anders sein darf. Für jemanden, der noch Spaß an der psychoanalytischen Sprache hat: Kastration findet per Taschenfeitel nicht am Organ statt, sondern an Gürteln, Schuhbändern und Hosenträgern, - oder eben an Knöpfen. Gelebte Metaphorik, sozusagen.

Was kümmern uns in Zeiten von Großraumjets, Breitbandinternet und Roaminggebühren Fahrräder und prämoderne Konzepte von Identität? Überhaupt gehören Briefträger bestenfalls in eine Sammlung bedrohter Arten. Stimmt, sage ich, es gibt in diesem Film kein Fernsehen, nicht einmal Radio, das schnellste Fahrzeug, das vorkommt, ist ein Traktor, und auch die Eiche, in deren Krone sich Lebrac versteckt, wird nicht mit einer Motorsäge gefällt, sondern per Hand. Außerdem ist der Film 1961 herausgekommen, im Jahr meiner Geburt, also hat das Ganze sowieso vor allem mit Sentimentalität zu tun. Von mir aus, damit wären wir zugleich wieder beim Thema: Zukunft braucht Herkunft, Anschlussfähigkeit ist angesagt, oder: Identität ohne Kontinuität ist keine.

Metaphorische Kastrationen

Meine Kindheit fand auch auf dem Dorf statt, in ihr gab es ebenfalls Bandenkriege, Traktoren, die wir ohne Wissen ihrer Besitzer in Betrieb nahmen, väterliche Affektdurchbrüche und metaphorische Kastrationen, die per Taschenfeitel vorgenommen wurden. Freilich gab es da plötzlich auch Telefon und Fernsehen (den Kasperl am Mittwochnachmittag, im Anschluss daran Wer bastelt mit?, Lassie und Fury ), es gab Eltern-Zeitschriften, die von den fortschrittlichen Müttern gelesen wurden, und für meine angeblich blutarmen Schwestern die Höhensonne bei unserem Hausarzt. Unsere Väter hatten sich gelöst aus der prämodernen Umklammerung ihrer Ursprungssozietäten und in anderen Dörfern Einfamilienhäuser gebaut, sie hatten Autos gekauft, vorwiegend VW Käfer und Opel Kadett, und damit konkret dafür gesorgt, dass für uns Buben der Tachometer zum Zentrum der Welt wurde. Im Leben geht es um Geschwindigkeit - in gewisser Weise begriffen wir das damals schon.

Was jedenfalls abgelaufen war, war der für die klassische Moderne charakteristische Prozess der Individualisierung, jener Vorgang, der dem Einzelnen substanzielle Handlungsalternativen eröffnete und zugleich eine größere Verantwortung für die Gestaltung seines eigenen Lebens übertrug. Mein Vater zog weg aus dem Ort seiner eigenen Kindheit und wurde nicht Eisenbahner (wie sein Vater und seine Brüder), sondern Lehrer. In der Generation unserer Eltern erfuhr das Projekt der Identität eine paradigmatische Verschiebung in Richtung Lebenslaufregime, das werden viele von uns aus eigener Erfahrung nachvollziehen können. Der Lebenslauf des Standardindividuums, die Normalbiografie, wurde zum wesentlichen Orientierungsraster. Der implizite Auftrag an die Menschen lautete: Wähle einen Beruf; gründe eine Familie; tritt einer Partei bei. Konkret: Mein Vater war sein Leben lang Lehrer, ist immer noch mit meiner Mutter verheiratet und der Verdacht, dass er trotz heftiger Seelenqualen heute dieselbe Partei wählt wie vor vierzig Jahren, ist nicht von der Hand zu weisen.

Das Gelingen seines individuellen Identitätsprojektes ist aus dem Glücken des am skizzierten Schema orientierten individuellen Lebenslaufes abzuleiten: Ich hatte einen Beruf, aus dem ich in Pension gegangen bin, ich habe immer noch dieselbe Familie, ich habe immer noch dieselbe Weltanschauung. Aus der transgenerationalen A-priori-Identität der Prämoderne ist die intragenerationale A-posteriori-Identität der klassischen Moderne geworden, jenes Muster, dem zwangsläufig die meisten von uns anhängen. Wir haben studiert, sind Ärzte oder Journalisten geworden und wollen das auch bleiben; wir sind immer noch mit dem gleichen Partner verheiratet, und wenn wir das nicht mehr sind, hat es vermutlich eine Zeit gegeben, in der wir uns ziemlich schlecht gefühlt haben; wir engagieren uns politisch oder NGO-mäßig, und wenn wir das nicht tun, so wissen wir zumindest, wo wir es tun würden, und das hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert.

Was sich verändert hat, ist die Antwort auf die Frage, ob, wann bzw. in welcher Weise wir einmal in Pension gehen werden, oder auf die Frage, ob unsere Kinder, die jetzt Medizin studieren oder Ausbildungen zum Webdesigner machen, diese Berufe irgendwann einmal auch ausüben werden. Wir wissen es nicht. Aus dem Zeitbewusstsein unserer Eltern, das ein eindeutig formulierbares Ziel hatte, ist unseres geworden, das zwar auch noch linear und intragenerational aufgespannt ist, jedoch eine offene Zukunft besitzt. Nur der Tod ist gewiss, das beruhigt nicht wirklich.

Lebensabschnittsidentität

Dadurch, dass sich der Wandel fundamentaler sozialer Strukturen rascher vollzieht als der einfache Generationenaustausch, werden Lebenslaufprogramm und die Orientierung an der Normalbiografie endgültig erodiert. Ausbildung findet andauernd statt und führt trotzdem nicht notwendigerweise zu einer entsprechenden Berufstätigkeit; mit der Partnersuche verhält es sich genauso; die inhaltliche Variabilität in den Programmen politischer Parteien ist bemerkenswert, und von der Frequenz, in der Mobiltelefone und MP3-Player neu angeschafft werden müssen, rede ich gar nicht. Die lebenslange Monogamie in Bezug auf Beruf, Intimbeziehungen und Wohnort wird abgelöst durch serielle Monogamie, wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, der das Phänomen der Beschleunigung wie kein anderer ausgeleuchtet hat, es nennt. Identität wird somit abhängig vom Zeitpunkt, an dem man auf ein Leben schaut, wird zum Querschnittsphänomen oder transitorisch.

Lebensabschnittsidentität ist angesagt, und innerhalb derselben tut man alles, um dem Akzelerationsgebot des Alltags gerecht zu werden: Man beschleunigt die Einzelhandlungen, man verkürzt oder eliminiert Pausen und Ruhezeiten und man praktiziert, was früher nur Cäsar oder Napoleon konnten, nämlich Multitasking: Zeitsparend beantwortet man neben einem Mitarbeitergespräch eine E-Mail und aktualisiert den elektronischen Kalender.

Wir, jene sogenannten Erwachsenen, die es nicht mehr werden können, tun, was wir können, keine Frage. Trotzdem fühlt man sich insuffizient und bedroht. Einerseits durch das Wahrnehmen der eigenen defizitären Verfassung und ebenso durch jene, die es offenbar besser können, durch die Kinder. Sie werden im Gegensatz zu uns in diese Welt hineingeboren, kennen keine andere, sind offensichtlich aufmerksamer als wir, einstweilen noch erfahrungssicher und begreifen schnell - "digital natives", wie sie neuerdings heißen. Im Wahrnehmen der intergenerationalen Kluft, die sich da auftut, kriegt man als unkundiger "digital immigrant" seine Probleme mit den selbstbewussten kleinen Experten.

Defensivstrategien

Unter Zusammenkratzen der letzten Reste von historischem Bewusstsein konstatiert man: Prügeln hat nichts geholfen, Verständnis auch nichts - jetzt stecken sie uns in den Sack! Den kardinalen Denkfehler, Kinder seien die Exponenten der Veränderungsbeschleunigung, und die Bedrohung gehe von ihnen aus und nicht vom eigenen Festhängen in einer Position des Kindseins, übersieht man. Die Folge ist, dass man als jemand, der sich mit dem Erwachsenwerden redlich abmüht, sein Repertoire an psychischen Defensivstrategien aufbietet. Projektion ist eine Möglichkeit: Man projiziert den abgewehrten eigenen Mangel auf die anderen, auf die Kinder, sucht infolge des eigenen Aufmerksamkeitsmangels und infolge der eigenen unbewussten Aggression bei ihnen nach Aufmerksamkeitsdefiziten und herandräuender Kriminalität und versucht diese durch Kontrollmaßnahmen in den Griff zu bekommen. Methylphenidat, am besten per Gießkanne, Neuroleptika spätestens ab der zweiten Rauferei, und nach dem Rauch- und Alkoholverbot vielleicht eine Bestimmung, die die Zusammenrottung auf Schulhöfen untersagt.

Apropos Zusammenrottungen auf Schulhöfen: Im Krieg der Knöpfe finden sie regelmäßig statt; in den Pausen, versteht sich, und unter dem wohlwollend strengen Auge des Lehrers; einer der besonders sympathischen Aspekte dieses Filmes ist übrigens, dass er Schule vorwiegend in den Pausen zeigt. In den Pausen passiert, was auch zur Identität gehört, nämlich das Lernen von Konfliktfähigkeit, oder, um einen Begriff zu verwenden, der konjunkturell derzeit nicht allzu sehr im Hoch steht, von Basisdemokratie. Man diskutiert, streitet, stimmt ab und ist sich am Ende einig. In einer der schönsten Szenen des Filmes resümiert es Klein-Gibus: "Gleichheit ist, wenn keiner bezahlen muss."

Expertenkinder und Projektion

Apropos Rauchen und Trinken: Der einzige, der im Krieg der Knöpfe raucht, ist Monsieur Simon, der Lehrer. Er tut das auf dem Hof und in der Klasse und ist offenbar sicher, dass das in Frankreich noch lange möglich sein wird. Betrunken sind einerseits jene Väter, die auf die Suchexkursion nach einem abhanden gekommenen Buben unglücklicherweise einige Flaschen Wein mitgenommen haben und daher nicht sehr weit kommen, andererseits Klein- Gibus, dem von einem der Väter aus Velrans solange Schnaps eingeflößt wird, bis er wirklich lustig ist. Komatös ist in dem Film niemand, das beruhigt, und wer verantwortlich ist dafür, dass Kinder trinken, ist klar, das beruhigt auch, zumindest den Kinderpsychiater.

Apropos Aufmerksamkeitsdefizit. Für einen Außenstehenden mag es ein wenig sonderbar erscheinen, dass gerade jene Kinder, die punktgenau tun, was die zunehmende Veränderungsbeschleunigung verlangt, als besonders behandlungsbedürftig gelten. Sie beschleunigen ihre Handlungsepisoden, verkürzen ihre Pausen und Ruhezeiten und machen mehrere Dinge nebeneinander, betreiben also Multitasking. Dann kriegen sie ein Medikament. Aber es hat ja schon Blaise Pascal gesagt, dass das Übel der Welt damit beginnt, dass der Mensch nicht fähig ist, längere Zeit in einem geschlossenen Raum zu bleiben, und Pascal war ein großer Philosoph; an den kann man sich halten.

Expertenkinder und Abwehrstrategien war das Thema, Projektion eine Möglichkeit. Eine andere ist Reaktionsbildung, oder wie man auch manchmal sagt, Identifikation mit dem Aggressor. Man identifiziert sich mit dem vermeintlichen Angreifer, den jungen Menschen, denen eine transitorische Identität selbstverständlich ist, wähnt in dieser Identifikation die Lösung und stellt das Ganze unter den Titel der Vernunft.

Man beschäftigt sich mit Hochbegabtenförderung, mit Fremdsprachen im Kindergarten, Laptops in der Volksschule, watcht Babys oder screent zum Beispiel Dreijährige. Die wahren Modernisierungsopfer übersieht man auf diese Weise übrigens garantiert: Die Behinderten, die nicht so Klugen, die früh Verwahrlosten - die strukturell Überflüssigen, wie es heutzutage so hübsch heißt.

Anpassung

Kinder, und das war immer so, besitzen grundsätzlich mannigfaltige Fähigkeiten, sich gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Unsere Kinder werden daher mit ihren Lebensabschnittsidentitäten zurechtkommen, wie wir es mit unserer normalbiografisch fundamentierten Identität tun. Womit sie vielleicht größere Schwierigkeiten haben werden als mit den Beschleunigungsbedingungen, sind die individuellen und gesellschaftlichen Projektionen, die sie in Form ausufernder Verbote, Reglementierungen und Kontrollen vorfinden. Daran werden sich die jungen Menschen stoßen, daran wird sich ihr Konfliktbedarf entzünden, und das wiederum wird nur gutgehen, wenn man sicherstellt, dass ihre Abschnittsidentitäten Kontinuität bewahren, das heißt, nicht als isolierte Fragmente durch die Gesellschaft taumeln.

Was also tun, damit ein bisschen was von dem übrig bleibt, was die allerletzte Szene des Kriegs der Knöpfe zeigt? Lebrac und Azteke, die Bandenhäuptlinge, treffen einander im Schlafsaal jenes Internates, in das sie beide strafweise gesteckt wurden. Monsieur Simon und der Anstaltsleiter gehen hinaus. Die beiden Buben turnen über die Betten und sind froh, einander zu haben. Am Ende sitzen sie da, und Lebrac sagt: "Stell dir vor, wenn wir beide groß sind, sind wir genauso blöd wie die."

Das ist anschlussfähige Identität. Was also tun? Der Psychoanalytiker Wilfried Bion hat ein Modell für die Interaktion zwischen Menschen geprägt, mit dem er unsterblich geworden ist, das des Containers. Ich glaube, in Zeiten, in denen im Fahrtwind der Veränderungsbeschleunigung so manches wegzufrieren droht, Identität unter anderem, sollten wir unseren Kindern in erster Linie Container bauen. Ein Container hat einen Boden, einen Deckel und vier Seiten.

Sich überflüssig machen

Der Boden, ganz simpel. Eltern, Lehrer und Kinderpsychiater haben den Kindern gegenüber vor allem eine grundlegende - und übrigens höchst schwierige - Aufgabe: Sie haben sich überflüssig zu machen. Mit anderen Worten: Das Gelingen unserer Funktion als Mutter, Vater, Lehrer oder Kindermediziner merken wir daran, dass wir von unseren Kindern nicht mehr gebraucht werden. Wenn wir uns das vor Augen führen und es ertragen, ist ein Container-Fundament geschaffen.

Die vier Seitenteile. Erstens. Die Pflege von Usancen. Man backe Kekse, feiere Weihnachten, singe im Chor, gehe täglich um drei vor halb außer Haus und fange auf Familien-Autofahrten nach dreißig Kilometern an, Soletti zu essen und nach sechzig "Wer sieht die meisten Mercedesse?" zu spielen. Man bringe die Kinder am Samstagmorgen in die Schule und stehe bitteschön pünktlich am Bahnsteig, wenn sie vom Schikurs zurückkommen.

Man sage auch dem pubertären Mutisten täglich lächelnd "Guten Morgen", lächle entsprechend weniger, wenn die vereinbarten Verpflichtungen nicht erfüllt werden, und halte trotzdem die Auszahlungstermine des Taschengeldes peinlich genau ein. Als Lehrer bringe man ihnen das Einmaleins bei, den Lehrsatz des Pythagoras, den Ablativus absolutus und weise darauf hin, dass die Schulglocke nicht nur ein willkürlicher akustischer Akzent im Tagesablauf ist. Man scheue sich nicht, ein Gewohnheitstier zu sein, denn Gewohnheitstiere wissen, wo sie hinsteigen, und so ein deutlicher Fußstapfen ist für jedes Kind etwas sehr Bequemes.

Pflegen Sie Ihre Stärken!

Zweitens. Das Hochhalten des Details. Backen Sie nicht nur Kekse, sondern verzieren Sie sie auch; feiern Sie nicht nur Weihnachten, sondern bestehen Sie auf dem weißen Tischtuch mit dem gelben Rand; weisen Sie den jungen Mann, der da vor Ihnen steht, auf den Unterschied zwischen dem einfachen und dem doppelten Krawattenknoten hin, auch wenn er Sie dabei anschaut, als hätten Sie Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Rechnen Sie nach dem Schikurs mit Ihrer Tochter das Sonderbudget, das Sie ihr gegeben haben, genau ab (und sagen Sie erst danach, dass sie sich den Rest behalten kann). Pflegen Sie Ihre eigenen Teilleistungsstärken, auch wenn es sich um die intimen Kenntnisse der heimischen Orchideenwelt handelt. Wer sich im Detail stark fühlt, fühlt sich im Ganzen nicht schwach, und nicht ganz schwache Erwachsene haben Kinder in der Regel ganz gern.

Drittens: die Kultur des Erzählens. Erzählen schafft, so der deutsche Philosoph Joachim Ritter, Kontinuität unter Diskontinuitätsbedingungen. Oder, für jene, die ab und zu ein lateinisches Zitat noch lustig finden können: Narrare necesse est. Eine Welt, die danach strebt, sich selbst in immer vielfältigeren Fragmenten zu erklären, bleibt eine Welt von Fragmenten; kontinuierlich wird sie erst durch die Erzählung. Das hat niemand so treffend formuliert wie der Gießener 'Transzendentalbelletrist' Odo Marquard: Die Geschichten, die wir zu erzählen haben, sind unser Personalausweis. Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichten; wer auf seine Geschichten verzichtet, verzichtet auf sich selbst. Kinder haben in einer teilfragmentierten Welt ein Bedürfnis nach Kontinuität, nach Menschen, die bereit sind, die Geschichten, die ihnen zur Verfügung stehen, auch zu erzählen. Was Sie erzählen sollen? Von sich selbst.

Neben der Sicherheit von Erfahrung scheint im Beschleunigungstaumel vor allem eine literarische Gattung verloren zu gehen - die Lebensgeschichte. Ist uns selbst noch auf die Nerven gegangen, zum hundertsten Mal zu hören, auf welche Weise die russischen Besatzungssoldaten die Fahrräder unserer Eltern zu Schrott fuhren oder wie das war mit dem Rohrstab in den Händen der Frau Volksschullehrerin, so scheinen die Kinder heute die Namen ihrer Großeltern nicht mehr zu kennen und keine Ahnung davon zu haben, wo ihre Eltern zur Schule gegangen sind, geschweige denn, ob sie ein Fahrrad besessen haben oder nicht.

Riskieren Sie die Emotion!

Zukunft braucht Herkunft. Kinder sollen wissen, wer ihre Eltern sind und waren, welche Lieblingsspeisen sie hatten und welche großen Gefühle, welche Ideale und seelischen Schmerzen. Kinder wollen all das wissen, und daher erzählen Sie es ihnen bitte, selbst wenn daneben die wirklich wichtige Frage nach dem endgültigen Erscheinungsdatum des neuen I-Phones gestellt wird.

Viertens. Jene Wand, die den Container an den Seiten dicht macht. Der Mut zum Konflikt. Um nicht gleich die rasenden Vierzehnjährigen vor uns zu haben, blicken wir eine Sekunde in die Welt der Babys, zurück auf René Spitz, den Urvater der Säuglingsbeobachtung, auf ein Bild aus seiner Beschreibung des frühen Mutter-Kind-Dialoges: das Nein wird aus jener Kopfbewegung geboren, mit der der Säugling die mütterliche Brust ablehnt. Das Nein drückt aus: Ich habe ein Bedürfnis nicht, das der andere an mir wahrzunehmen meint. Somit wird klar: Es gibt hier mich und dort, getrennt von mir, den anderen.

Das Nein, der allererste Konflikt, wird somit sehr früh zu einem zentralen Organisator der Identitätsentwicklung. Freuen Sie sich also, besonders in einer Zeit, in der die altbewährten Konfliktfelder der Reihe nach hinwegkontrolliert und -kriminalisiert werden, wenn da ein Kind ist, das Ihnen einfach so widerspricht, und scheuen Sie Ihrerseits nicht den Widerspruch. Erinnern Sie sich an dialektische Prinzipien der Auseinandersetzung und riskieren Sie die Emotion. Aber: Was Grobheiten betrifft, so stecke man um Gottes willen mehr ein als man austeilt, und wenn das schmerzt, erinnere man sich bitte daran, dass die Phase des pubertären Irreseins sogar bei einem selbst vorübergegangen ist und man in Wahrheit die Lehrer, mit denen man am besten streiten konnte, am meisten geliebt hat.

Der Deckel

Fehlt noch der Deckel des Containers, werden Sie sagen. Auf den verzichten Sie, bitteschön! Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, von einem gesicherten Unterbau aus den Kopf in den Sturm zu stecken, ist immer noch das Beste, was man für sie tun kann. (DER STANDARD Printausgabe, 27./28.10.2007)