Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war vor ein paar Minuten. Da war das Mail von M. in meiner Box gelandet. M. leistete Abbitte und fragte um Rat. Und zwar "presto e pronto" – weil es sonst passieren könne, dass er ins Kloster ginge. Und das Problem mit seinem Nicht-Katholischsein, schrieb M., würde er schon irgendwie hinbiegen.

M. hatte nicht auf uns gehört. Und war zur Pyramide gefahren. Dort hatte ihn das, was er da am Parkplatz sah, nicht genug abgeschreckt: M. hatte ein Ticket gekauft und war eingetreten. Fünf, allerhöchstens zehn Minuten später, schreibt M. habe er keine Lust mehr auf Sex gehabt. Schlimmer: Seither habe sich bei jedem Gedanken an zwischenmenschlich-körperliche Interaktion ein "diffuses Igitt-Gefühl" eingestellt, schreibt M.

Schüttelfrost

An Sex, an richtigen, feinen, lustvollen Vollkontakt-Verkehr, sei gar nicht mehr zu denken: Schüttelfrost, Schweißausbrüche und Übelkeit, schreibt M., würden sich bei der bloßen Idee einstellen. Und dann von einer Art frustriert-bleierner Müdigkeit und dem Gefühl absoluter Kläglichkeit überdeckt: Sex, schreibt M., scheine ihm nun eklig und primitiv. Und er frage sich, wie es sein konnte, dass er je Spaß, Freude und Lust an Praxis wie Theorie haben konnte. Aber im Grunde, meint M., sei das ja jetzt egal – seit dem Augenblick, als er, M., seine erste Runde durch die Pyramide bei der SCS gedreht hatte. Dort war nämlich Erotikmesse.

Seither, schreibt M., sei ihm klar: Die katholische Kirche hat Recht. Sex IST schlecht. Eklig. Ungustiös. Unappetitlich. Und darüber hinaus unendlich lächerlich. Ein tristes, absolut überschätztes Spektakel. Und einzig und allein dadurch und dann zu rechtfertigen, wenn es darum gehe, den Arterhalt zu sichern. Also sich fortzupflanzen. Alles andere, ist M. seit dem Beginn dieses sehr langen Wochenendes überzeugt, sei peinlich. Ein Trauerspiel. Eine Beleidigung von Intellekt, Zivilisation, Kultur und Wissenschaft. Also eine Absage an den Menschen an sich.

Überlegenheitsgefühl

M. ist über diese Erkenntnis nicht glücklich, schreibt er. Ganz im Gegenteil: Frisch verliebt und im Taumel der überschwappenden Hormone sei er zur Erotikmesse gefahren. Hand in Hand mit seiner neuen Liebe. Neugierig, schreibt M., wären sie gewesen. Spöttisch-überlegen hätten sie gelächelt, als sie den Wagen geparkt und händchenhaltend zur Kasse geschlendert wären: Sie hätten, hatten sie geglaubt, ja einander. Ihre Phantasie. Ihre Entdeckerlust am Anderen. Das, hatten sie geglaubt, seufzte M.s Mail, wäre ja wohl Schutzwall gegen Unflat und Filter gegen Unrat. Feines, Subtiles, Neckisches würde, hatten sie geglaubt, sich schon seinen Weg durch dieses Bollwerk aus privater Lust und frischer Liebe bahnen können. Wenn es so etwas (also das Feine) dort (auf der Messe) überhaupt gäbe.

Denn M. war nicht ungewarnt gen Süden gezogen: Zum einen hatte er ja selbst schon Beiträge im TV gesehen, in denen Menschen, mit denen er nichts gemein haben wollte, erklärten, wie toll solche Veranstaltungen seien. Wie belebend. Wie befruchtend. Wie erhellend. Wie inspirierend. Dann hatte er die dazupassenden Bilder gesehen. Von geifernden Alten und sabbernden Jungen. Von Vorführungen und Produkten. Von der Kommerzialisierung, Verramschung und Gleichschaltung des Schönen, Privaten und Intimen. Von Entherzung und Enthirnung. Und hatte darüber gelacht.

Scheinheilige Warner

Dann waren da noch unsere Warnungen gewesen. Wir, die wir doch (fast) alle mit der besten Ausrede der Welt ("ich bin Journalist, privat würde ich mir so was nie anschaun/antun, das ist Teil des Job und ich würde lieber eh nicht .... blablabla") ausgerüstet sind, hatten abgeraten, gewarnt, gemahnt. Durchaus – vermutlich eben zu – detailreich. Und nicht nur (wie wir dann lasen) authentisch, sondern (wie wir befürchtet hatten) auch vergeblich: M. hatte uns der Scheinheiligkeit geziehen (da hatten wir wenig zu entgegnen gehabt), hatte seine Herzdame angerufen und war sie holen gefahren. Und er hatte uns zum Abschiede noch zugerufen, dass er uns diese pastoralen Sorgengesichter, die wir da gerade aufgezogen hätten, nicht ungeahndet vergeben würde.

Vor ein paar Minuten kam dann das Mail. Ich rief M. sofort an. Er klang ver- und zerstört. Und klagte: Es sei eigentlich so gewesen, wie er es erwartet hatte. So, wie er es verlacht hatte. So, wie er es schon gesehen hatte. Wo denn dann das Problem sei, fragte ich. Und M. jammerte: "Im Fernsehen dauert das ein paar Minuten. dann ist es vorbei oder du zappst weg. Aber dort, wenn du mitten drin stehst, dann geht das nicht. Da bist du mittendrin – und schutzlos. Und jetzt ist eben alles aus." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 29.10.2007)